Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)
möglich sein, wenn klar wäre, dass Abbé Balthasar de Villers von meinem Verhältnis zur Baronin, seiner Ex-Geliebten, nichts gewusst hatte. Damit erst würde ich ausschließen können, dass er sich an mir hatte rächen wollen, indem er Juliette Absolution und Sterbesakramente verweigerte. Nicht Juliettes Sturheit, den Namen ihres Geliebten preiszugeben, wäre dann der Grund für seine Unbarmherzigkeit gewesen, sondern die Liaison einer liebesthungrigen Dame von Stand mit dem sechzehnjährigen Sohn eines Forstverwalters!
Ich hätte nicht für möglich gehalten, dass man so rasch in multiple Gefühlswelten schlittern kann. Als seelisch Gespaltener verbrachte ich die Tage bis zu Abreise völlig mit mir selbst beschäftigt. Mehrmals stand ich an Juliettes Grabstelle, aber wollte ich mit ihr Zwiesprache halten, verwehten Zweifel und Fragen, und mein Herz sehnte sich nach Marie-Thérèse. Beschwor ich aber deren liebes, begehrenswertes Bild in meine Tagträume, mischten sich Abbé und Comte hinein. Ihre häßlichen Physiognomien beschmutzten alle schönen Erinnerungen, und wenn es mir doch einmal gelang, sie beide in einer imaginären Ecke einzusperren, legte sich wieder Juliettes Schatten auf mein Gemüt.
Die Dämonen waren los. Sie bemächtigten sich meiner Gefühle und machten sie sich zur Beute. Um nicht unablässig zerteilt zu werden, half nur Konzentration auf die Dinge selbst – ungefähr so: Sieh da, da knospen die Espen. Und wie der Misthaufen mistet! Die Säge sägt, und der Schmied schmiedet! Die kleine Finkwiller. Ob sie will? Es war anstrengend, in jedem Stuhl einen Stuhl zu sehen, mithin den Gegenständen ihre Namen umzuhängen. Aber Anstrengung macht bekanntlich müde und in Verbindung mit Essen und Trinken herrlich schläfrig. Nichtsdestotrotz war ich der Baronin dankbar, dass sie mich nicht nur schlafen ließ, sondern auch den erblindeten Rebbauern und dessen Frau einlud, auf dass ich meine Gabe an ihm erprobe. Nun, dem naiven und schwärmerischen Nathan Bouxwiller bereitete ich die größte Freude seines Lebens – aber jetzt ist noch nicht die Zeit, seine Geschichte zu erzählen.
Für mich indes gab es nur eins: Ich musste den Abbé zur Rede stellen, und dies so schnell wie möglich. So gesellte sich zum Chaos der Gefühle quälende Ungeduld. Ich hatte mit Marie-Thérèse vereinbart, mir zu schreiben, wann ihre Gastspiele beendet waren und sie wieder nach Paris zurückkehrte. Zum Glück ließ sie mich nicht allzu lang zappeln, und so schließe ich diesen Teil meiner Geschichte mit der bereits eingangs ausgesprochenen Feststellung: Mit der Diligence reisen heisst Gesellschaft erleben, Geschwätz und Gerumpel aushalten, vor allem aber sich in Geduld üben.
„Wir werden nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden; und dasselbe plötzlich, in einem Augenblick, zur Zeit der letzten Posaune.“ Erster Korinther-Brief, Kapitel 15, Vers 51, 52.
Da stand ein Mensch noch vor ein paar Tagen im Elsaß am Grab seiner Schwester und dachte: Nun ist alles gut, nun darfst du wieder glauben und beten und kannst auch wieder zu Gott sprechen. Herr, ich hab mein Sach dir anheim g´stellt, Amen. Jener Mensch hatte sich die Gewißheit verschaffen wollen, für die Zukunft vom Panoramaweg der Versöhnung aus sein Stadtleben genießen zu können, doch nach ein paar Fragen an eine alte Baronin fügte es sich so, als habe er damit das Los gezogen, eine gewisse Zeit, und sei sie noch so kurz, mit zwei Quadern jonglieren zu müssen. Einer trug die Aufschrift: Ich bin Marie-Thérèse und werde vermutlich im Haus des Comte de Carnoth verbaut; auf dem anderen prangten die Worte: Ich bin Abbé de Villers und so groß ich bin, so schwer wog damals meine Rache.
Zwei Quader also.
Aber es kam noch ein dritter hinzu – nicht weniger mächtig als die anderen beiden. Dass nun jener Mensch nicht von ihnen zerschmettert wurde, beruhte einzig auf den sich überschlagenden Ereignissen. Einst meisterte er die herabstürzenden Quader des Arc de Triomph, indem er beschwingt durch sie hindurchtanzte, jetzt quasi „wurde er gemeistert“, und dies mit einer Wucht, die ihn ganz von selbst zum Tanzen, nein ins Taumeln brachte.
Müde stapfte ich hinter dem Kofferträger die Treppe zu meiner Wohnung hoch. Vor dem Hôtel de Ville, dem Ziel der Diligence, hatte ich eine Charette ergattert. Der Kerl, der sie zog, hatte Hundekot an den Stiefeln, war aber so manierlich, ihn sich vor Betreten des Hauses an den Resten eines
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