Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)
Mensch, stolz dazu, und wäre sie keine Frau, am ehesten als patriarchalischer Charakter zu beschreiben.
»Eines Tages wird Philippe die Gutswirtschaft genauso lieben wie sein Bruder«, versuchte ich zu trösten.
»Nur weil er Zwillingsbruder ist? Nein, Petrus, du weisst sehr gut, wie wenig ihm die Landwirtschaft liegt. Ihn interessiert einzig seine Apanage. Solange sie gesichert ist, wird er sich nicht ändern. Er ist ein Bonvivant. Und dabei glücklich.«
»Es scheint zumindest so. In nuce lassen beide sich möglicherweise so charakterisieren: Ludwig war Kaffee-Trinker, Philippe dagegen gibt der Schokolade den Vorzug.«
»Eine intelligente Differenzierung.«
Gemeinsam machten wir uns zur Gutskapelle auf, in deren Gruft mit Ludwig nun die zweite Generation der Oberkirchs ruhte. Der alte Baron hatte seinen Platz noch in der Ehnheimer Pfarrkirche gefunden, sein Sohn und dessen Frau waren die ersten, die in der Gutskapelle begraben worden waren. Ich legte einen Strohblumenstrauß auf Ludwigs Sarg und versuchte mich an einem stummen Gebet. Es gelang mir nicht, mein Herz schwieg. Stattdessen dachte ich an fleischliche Freuden, diesmal aber nicht an die mit Marie-Thérèse genossenen, sondern jene, die die Baronin mich gelehrt hatte. Ihren Sarg zierte ein geschöntes Relief, das ich aus der Laune heraus plötzlich am liebsten gestreichelt hätte.
»Du wirst deine Gedanken haben«, sagte die alte Baronin trocken. Ich sah sie unsicher an. Sie trug schimmerndes Schwarz, und mir kam es vor, als würde sich ihr graues, am Hinterkopf zusammengerolltes Haar unter dem perlenbesetzten Netz sträuben. Wusste sie etwa, dass ihre Schwiegertochter einst …
»Schau mich nicht so an, Petrus. Ludwig …«
»Ach, Ludwig …«
»Ja, Ludwig. Er und du – ihr seid euch zu spät wiederbegegnet. Bestimmt hättest du ihm helfen können. Denn der wahre Grund für seinen Ausflug nach Paris war die Schwermütigkeit, die ihn hier vor ein paar Jahren überfallen hat. Anfangs suchte sie ihn nur gelegentlich heim, dann kamen die Attacken in immer kürzeren Abständen. Es gab Tage, da saß Ludwig im Bureau herum, ohne eine Minute gearbeitet zu haben. Stattdessen schaute er in einen Spiegel, der so gestellt war, dass er durch ihn die Wolken betrachten konnte.«
»Darf ich fragen, ob Marie-Thérèse der Grund für seine seelische Verstimmung war?«
»Nein. Sie trat später in sein Leben. Ich habe sie nur einmal gesehen, kenne sie ansonsten nur vom Hörensagen. War er glücklich mit ihr?«
»Sie zumindest mochte ihn sehr gerne.«
»Und Philippe?«
»Der Verdacht, er könnte Ludwig aus Eifersucht …«
»Unsinn.«
Wir hatten die Gruft verlassen und betraten den sich hinter der Kapelle erstreckenden Gottesacker. Hier waren all diejenigen Seelen beerdigt, die auf dem Gut der Oberkirchs gelebt hatten. Also auch meine Eltern und Juliette. Sprödes, graugrünes Heidekraut zierte ihre Grabstellen, die alle dasselbe schwarze schmiedeeiserne Kreuz trugen, auf dem vor kurzem Namen und Lebensdaten mit frischer Messingfarbe aufgefrischt worden waren. Meine Blicke klebten an den Buchstaben, die Juliettes Namen bildeten. Zwanghaft pickte ich mir einen nach dem anderen heraus, setzte sie zu Silben zusammen, formte wieder und wieder stumm den einen geliebten Namen. Eine ganze Weile konnte ich die Tränen zurückhalten, dann aber ergab ich mich meinem Schmerz. Ich sackte in die Knie und weinte stumm. Die Tränen rannen über meine Wangen, tropften aufs Heidekraut und färbten einen Zweig dunkel. Dann, ganz plötzlich, war es gut. Ich fühlte mich leer, aber leicht.
„Du bist meine liebe Schwester Juliette.“
Meine Stimme war dünn, aber sie brach nicht, als ich diese Worte sprach. Es gelang mir, ein paarmal ruhig tief ein und aus zu atmen, für einen Moment schloss ich auch die Augen. Als ich sie wieder öffnete, leuchteten die Buchstaben, als würden sie von der Sonne beschienen.
»Gehen wir, Petrus«, hörte ich die Baronin mit warmer Stimme sagen. »Ab jetzt wirst du die Kraft haben, wiederzukommen.«
Sie hakte sich bei mir unter und zog mich mit sich. Doch statt den Gottesacker zu verlassen, gingen wir ein paar Reihen weiter und blieben vor einem anderen Grab stehen.
»Marie de Villers«, las ich nachdenklich. »Richtig. Sie war …«
»Du kennst sie. Die kleine Mouche. Schon vergessen?«
»Eigentlich weiß ich nur, dass die Haushälterin des Abbés bei der Beisetzung heftig geweint hat. Ansonsten glaube ich mich erinnern zu können, dass
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