Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)
die untergehende Sonne. Sie ist kreisrund und tief orange, ihre Farbe wird immer intensiver. Du spürst, wie das Wasser deine Zehen benetzt, es deine Füße umspült, dir gegen die Knöchel plätschert. Es ist ein wunderbares Wasser, mild wie Balsam und golden wie die Sonne. Du gehst weiter ins Meer, und die Sonne wird immer größer und satter. Das Wasser reicht dir jetzt zu den Knien, und dein Wunsch, es möge dir bis an die Schultern reichen, wird immer mächtiger …«
Marie-Thérèses Atem belebte sich, wurde wieder flacher. Ich bat sie, die Augen zu schließen und nur meiner Stimme zu lauschen – mit dem Ergebnis, dass sie immer tiefer in Trance glitt und irgendwann zu atmen begann, als würde sie besondere Kraft aufwenden müssen.
»Es ist so schwer, gegen das Wasser anzuschreiten.«
»So tief bist du schon?«
»Ja.«
»Magst du schwimmen?«
Scharf sog sie die Luft ein. Ihr Körper bäumte sich auf, und sie zog die Beine an.
Ich ließ sie schwimmen und erfuhr, dass sie eine gute Schwimmerin war, die als Kind in Amien in Begleitung einer Baratschen Novizin in einer Bucht der Somme gebadet hatte. Marie-Thérèse erinnerte sich auch an Ausflüge ans Meer, aber von all dem konnte sie nichts beschreiben, weil ihre Augen zu der Zeit längst geschädigt waren. Natürlich packte mich der Ehrgeiz, eine sehende Marie-Thérèse erzählen zu lassen. Doch kaum, dass ich sie bat, sich im Baratschen Pensionat zu bewegen, reagierte sie mit schroffer Ablehnung: »Nein. Ich will jetzt allein Angenehmes erleben. Nichts anderes.«
»Du bestimmst. Du weisst ja, wie neugierig ich bin. Kannst du dich denn überhaupt an ein Erlebnis erinnern, an dem deine Augen noch gesund waren?«
»Ich glaube schon.«
»Und was war das? Suche das Bild. Es ist da. Du hast es nur vergessen. Aber was vergessen wurde, ist darum nicht aus der Welt verschwunden. Du hast nur keine Lust, das Bild noch einmal zu sehen. Denn das würde heißen, du würdest wieder fühlen. Dich vielleicht sogar ängstigen.«
»Was ich aber nicht will!«
»Du kannst alles Belastende meiden.«
»Sich erinnern heisst aber auch, seine Unschuld zu verlieren.«
»Da du das sagst, hast du schon die Schatten beschworen, Marie-Thérèse. Laß sie Farbe annehmen.«
»Gut. Es ist eine Rauferei.«
»Was ist so schlimm daran?«
»Ich bin noch klein.«
»Ein richtig niedliches Mädchen also. Hat sich die kleine Marie-Thérèse vielleicht mit der kleinen Mouche um eine Puppe gestritten? Du kennst sie doch noch, oder? Die kleine Mouche? Den Wildfang?«
Mir klopfte das Herz bis zum Hals. Im Moment, in dem ich fragte, ahnte ich die Antwort.
»Wie kann ich selbst mit mir streiten? Ich bin Mouche.«
»Eine Scherzfrage«, sagte ich beherrscht und zwang mich, nicht weiterzudenken, obwohl mir fast der Kopf platzte, so aufregend und dramatisch war diese Bestätigung. »Aber mit wem … prügelst du dich denn dann?«
»Ich doch nicht.«
»Wer denn?«
»Zwei Jungen. Ich beobachte sie von oben. Sie sind älter. Wälzen sich im Gras und dreschen richtig aufeinander ein. Das alles geschieht vor einer Harpfe, aber dort hängt kein Heu zum Trocknen. Ich sitze auf der obersten Sprosse, stoße mit dem Kopf fast an das Dach und lehne mit dem Rücken an den Dachüberstand. Er sticht mir ein wenig in den Rücken, doch ich kann bequem sitzen. Wenn ich nur nicht so ein schlechtes Gewissen hätte! Denn ich weiß, ich bin der Grund, warum die beiden Jungen sich prügeln. Um den einen von beiden habe ich Angst. Den anderen mag ich zwar auch, allerdings etwas weniger.«
»Marie-Thérèse, warum hattest du ein schlechtes Gewissen?«
Ich brauchte all meine Konzentration, um meine Stimme ruhig zu halten. Innerlich aber war ich aufgewühlt und hätte Marie-Thérèse am liebsten bei den Schultern gepackt und angeschrien, endlich preiszugeben, dass die beiden Jungen niemand anders als Philippe und Ludwig waren.
»Warum hattest du ein schlechtes Gewissen? Du bist doch nur ein kleines Mädchen. Was hast du den Jungen denn getan?«
»Ich habe mit dem einen Mann und Frau gespielt. Dann kam der andere.«
»Und?«
»Er hat gesehen, wie ich seinem Bruder einen Kuß gegeben habe.«
»Mehr nicht?«
»Doch. Ich sagte: ‚Wenn ich groß bin, heirate ich dich.’ Daraufhin blaffte mich der andere an, dass ich dies auch schon zu ihm gesagt hätte. Woraufhin er sich auf seinen Bruder stürzte und sie sich zu schlagen begannen.«
»Demnach wollten beide dich heiraten. Du nur einen von ihnen. Stimmt
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