Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)
kleines niederländisches Gemälde, auf dem eine bunte Kinderschar auf dem Eis einem Holzball nachjagte, während ein Häuflein angetrunkener Bauern einem fackelwerfenden Jongleur zujohlte. Am Himmel zogen sieben Krähen ihre Kreise, den Vordergrund beherrschte eine Strohkate, aus deren Fenster dunkler Qualm zog. Du bist auch auf dem Eis, dachte ich. Jagst Liebe und Glück hinterher, aber woanders schwelt das Feuer.
Ich leerte mein Glas, schenkte mir nach, trank und seufzte. Marie-Thérèse, einst kostete ich deine Mutter und nun dich! Dass ich bei unserer ersten Begegnung deine Küsse und deinen Leib zu kennen glaubte … jetzt weiß ich, dies war keine Fiebervision. Es war nur ein Teil der Kruste geplatzt, unter der ich den Schutt der Vergangenheit begraben hatte. Aber wen liebe ich wirklich? Dich oder deine Mutter? Ich fürchte mich vor dieser Frage, Marie-Thérèse. Aber sie wird kommen, du wirst sie mir stellen. Und ich kann nur hoffen, dass ich nicht zu stammeln beginne und du mir glaubst, wenn ich beteuere: Ich liebe dich. Dich allein.
Zugegeben, dies alles klingt sentimental. Aber so und nicht anders dachte und fühlte ich in diesen Stunden. Und wie war es um Philippe bestellt? Ich beobachtete, wie er sich in das Antlitz einer Madonna versenkte, nah und näher an das Bild herantrat und versuchte, es aus mehreren Blickwinkeln zu betrachten.
Du begehrst deine Mutter, mein Freund, sprach ich ihn im stillen an. Wusstest du das? Indem du deine Schwester liebst, sehnst du dich in Wahrheit nach deiner Mutter. Ist dir nie bewußt geworden, dass Marie-Thérèse die Ausstrahlung deiner Mutter hat? Nein, wie solltest du. Ein Sohn kann dies nicht erkennen. Denn der Mensch darf seine Mutter lieben, aber nicht begehren. Sie ist tabu, und das Selbst lernt dies vom ersten Augenblick an. Wenn ich groß bin, dann heirate ich dich. Das sagt der Vierjährige zur Mama, die Dreijährige zum Papa, der Bruder zur Schwester, die Schwester zum Bruder. Wir hören uns diesen Satz aussprechen und wissen doch im tiefsten unserer Seele, dass wir uns seinen Gehalt verbieten müssen. Wir vergessen, doch der Keim bleibt. Wie eine Auster legen wir Perlmutt um ihn und verwandeln damit unser Begehren in einen Schatz, den wir ein Leben lang in unserem Herzen mit uns tragen. Es ist ein kalter Schatz. Er wärmt nicht eigentlich, aber doch ist ihm magische Leuchtkraft eigen, die wir zwar nicht bewußt empfinden, trotzdem nicht missen möchten. Ich vergleiche seine Leuchtkraft mit dem Polarlicht: Wie dieses nur den Himmel erhellend über den nördlichen Winterhimmel geistert, speist es in unserem Herzen allein der Perle matten Schimmer.
So viele Menschen es gibt, die diese Perle in der Brust tragen, so zahlreich sind jene Menschen, denen diese Perle fehlt. Nie konnte sie sich bilden, weil Vater oder Mutter, Bruder oder Schwester Bestien waren und dem Kind nie das Glück beschieden war, diesen einen unschuldigen Satz zu sprechen: Wenn ich groß bin, heirate ich dich. Menschen ohne diesen Perlenschatz, ohne sein magisches Leuchten sind ärmer als die anderen. Oft häufen sie reale Schätze an, aber mit zunehmendem Alter empfinden sie die Lücke, welche die fehlende Perle verursacht. Die Dämonen, die in dieser größer werdenden Lücke ihr Unwesen treiben, lösen Angst aus und machen krank, forcieren Zerstörung und Schmerz. Manche verzweifeln und nehmen sich das Leben, andere werden zu Peinigern. Der ewige Kreislauf beginnt: Die Opfer werden zu Tätern. Nur wer das erkennt und die Dämonen aus der Lücke zu vertreiben versteht, sie benennt und erzählt, kann sich wirklich heilen - und wird damit der nächsten Generation dazu verhelfen, dass in ihrer Brust eine neue Perle reift.
»Petrus?«
»Ja?«
»Du begehrst sie wie ich, nicht wahr?«
»Sie lässt mich auf jeden Fall alles andere als kalt.«
»Mein Stand gibt mehr her als der deine, mein Freund, zusätzlich bin ich pekuniär besser gestellt. Doch auch wenn das eine vollkommen lächerliche und dir gegenüber unwürdige, anmaßende Feststellung ist: Eine Allerwelts-Frau will Sicherheit, eine Künstlerin benötigt eine repräsentative Stütze, Marie-Thérèse darüber hinaus Vermögen und einen gewissen Luxus … «
» … und viel Liebe, Philippe. Aber ich verstehe dich. Gebe dir sogar Recht. Nur Marie-Thérèse hat ihren eigenen Kopf, Philippe.«
»Wir werden sehen. Damit du erkennst, wie ehrlich ich dir gegenüber bin, verrate ich dir jetzt: Ist der Alte hinüber, mache ich ihr einen
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