Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)
beschämt. Ich hätte Philippe die Wahrheit sagen sollen. Und die Begründung gleich dazu. Stattdessen hielt ich ihn zum Narren und bereitete damit die Katastrophe vor. Ich riskierte sogar, zu einem Duell auf Leben und Tod gefordert zu werden. War Marie-Thérèse sich dessen eigentlich bewußt?
Dann platzte Hippolyte in unsere Runde: Der Abbé war aufgewacht und verlangte nach Marie-Thérèse.
»Aber nur Mademoiselle.«
»Aha. Sie haben also gleich gefragt, wie?«
»Warum sollte ich? Monsieur de Abbé wünscht seine Nichte. Sie meine Herren, sind Mademoiselles Gäste. Von Gästen aber redete Monsieur de Abbé nichts.«
»Woher soll er auch wissen, Sie Höllenhund, dass wir da sind?«
Philippe blaffte mit einer Aggressivität, die völlig aus dem Rahmen fiel. Mit geballten Fäusten stelzte er auf den obersten Diener des Comtes zu. Ich glaube, es fehlte nur ein Quentchen und er hätte ihn am Revers gepackt und geschüttelt. Es zeugte von Hippolytes eiskalten Nerven, dass er nicht einmal mit der Wimper zuckte. Stumm stand er da, zwar etwas bleich, aber jeder von uns spürte: Angst hatte er nicht.
»Monsieur de Abbé wünscht Mademoiselle zu sehen, Baron. Sie sollten Verständnis für dieses private Anliegen erübrigen. Auch mein Herr, der Monsieur Comte de Carnoth, Baron, würde Ihnen empfehlen, diesen Wunsch zu respektieren.«
Ich glaube, es macht mich und Philippe nicht geringer, wenn ich sage: In diesem Moment war uns Hippolyte eindeutig überlegen. Nicht nur Philippe, auch mir verschlug es die Sprache. Hilfesuchend drehte ich mich zu Marie-Thérèse um, während Philippes Gesicht … Das Licht des winterlichen Morgengrauens setzte sich in seine Augen, trostlos wie verblichenes Gras, freudlos wie ausgewaschener Gräberstein. Das Antlitz wurde leer wie ein bedrohlicher Schacht, und die Geschmeidigkeit fiel heraus wie die Steine eines Mosaiks.
Bekam Marie-Thérèse diese Wandlung mit? Fühlte sie es?
Nein. Denn sie hatte – und das ist richtig formuliert - nur Augen für Hippolyte. Die Künstlerin und selbstbewusste Schönheit war in ein ängstliches Vögelchen verwandelt. So groß war die Sorge um ihren Onkel, dass sie Hippolyte schließlich am Rock zupfte wie ein kleines Mädchen, das damit sagen will: Laß uns doch endlich gehen!
Philippe und ich blieben allein zurück. Hippolyte schickte bald ein Mädchen, das uns bestellte, Mademoiselle habe sich entschlossen, Nachtwache zu halten. Sie danke für unseren Besuch und wünsche uns einen guten Heimweg.
»Das nennt man Rausschmiß«, sagte ich.
»Laß uns bei mir einen trinken«, schlug Philippe vor.
Still tranken wir vor uns hin: drei Flaschen des Oberkirchschen Gewürztraminers. Allerdings drückten wir uns dabei nicht griesgrämig in irgendwelche gepolsterten Ecken, sondern gingen im großen Salon spazieren. Das erste Mal hatte ich Musse, in aller Ruhe Philippes Gemäldesammlung zu betrachten. Er verschonte mich mit Erklärungen, ich forderte keine. Doch die Ruhe, die mich angesichts antiker Ruinen, Stilleben mit Wildpret, holdseligen Renaissance-Madonnen-Idyllen oder pathetisch dräuenden Wolken über niederländischen Mühlen überkam, schlug zusehends in eine Art Staunen um - darüber, dass ich und der Abbé die einzigen waren, die um Wahrheiten wussten, die Marie-Thérèse unweigerlich an den Rand des Zusammenbruchs würden führen müssen.
Beide hatten wir Philippe etwas vorgespielt. Milde ausgedrückt, wir brachten es nicht übers Herz, ihm Hoffnung und Liebe zu zerstören.
Doch dies ist ja eine Lüge!
Schließlich hatte Marie-Thérèse sich nur daran erinnert, dass sie Ludwig und Philippe schon lange kannte und beide wegen ihr schon als Kinder aneinandergeraten waren. Alles andere war ihr noch verborgen. Doch es war nur eine Frage der Zeit, wann sie auf diesen biographischen Knoten stoßen würde und darüber zu grübeln begänne, wo sie die Prügelei eigentlich beobachtet hatte. Auf dem Gut ihres Onkels oder in Ehnheim auf dem Gut der Oberkirchs? Sie brauchte nur Philippe fragen … ein paar Erinnerungen an den „Wildfang“, die kleine Mouche, würde er bestimmt noch haben … Ich bemühte mich ein paar Mal, ihre Reaktionen abzuschätzen, aber meine Vorstellungskraft reichte dafür nicht aus. Nur eines war gewiß: Ich musste sie schützen, bei ihr sein, wenn sie Stein für Stein ihre wahre Biographie zusammensetzte und begriff, dass der Abbé ihr Vater war und die Baronin Oberkirch ihre Mutter.
Gedankenverloren betrachtete ich ein
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