Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)
sinkt auf die Knie und streckt zu Tode verängstigt den Eltern die Hände entgegen. Im selben Moment packen die Nonnen zu und halten sie fest, während Vater und Mutter sich immer weiter entfernen. Die ersten Schritte gehen sie rückwärts, lächeln, winken. Dann, irgendwann, drehen sie sich um. Marie-Thérèse begreift: Das ist das Ende. Sie wollen nichts von mir wissen. Sie wird ohnmächtig vor Schmerz, will nicht mehr sehen, sich am liebsten für immer in der Geborgenheit des Dunkels flüchten.
Eines Tages wirst du mich vergessen, Marie-Thérèse.
Eines Tages wirst du sie vergessen, Marie-Thérèse.
Jetzt ist es Philippe, zu dem sie nicht darf. Wieder wird sie von hinten festgehalten. Marie-Thérèse Stimme überschlägt sich, wie irr schlägt sie mit dem Kopf hin und her, nicht sehend und nicht mehr verstehend, gefangen in uralten schrecklichen Bildern.
Sie schreit, aber der Priester und Hippolyte halten sie nur um so fester.
»Laßt sie los!« finde ich endlich die Worte.
Da bricht sie zusammen, wird ohnmächtig.
Das letzte, was sie herausbrachte, war ein unendlich gequältes: „Mama.“
Wenn es wirklich nur die Gegenwart gäbe, zumindest eine begrenzt währende Gegenwart, und man alles aufschreiben müßte, um es nicht sofort wieder zu vergessen: Wie würde sich dann ein Mensch gebärden, wenn er liest, dass er einst getötet hat? Petrus vermutete: »Er wird entsetzt aufschreien, aber wie sollte es anders sein, als dass er sofort wieder vergisst?«
Ich habe nichts aufgeschrieben. Zum einen, weil es in meiner Welt außer der Gegenwart auch noch Vergangenheit und Zukunft gibt, zum anderen, weil es in dieser Welt genug Gründe gibt, das eigene Vergessen zu perfektionieren, ja sogar zu kultivieren. Das mag jetzt klingen, als würde ich diese Untugend verteidigen wollen, aber dem ist nicht so. Ich behaupte dagegen: Das Vergessen ist ein fluchbeladenes Geschenk, das uns Engel und Teufel gemeinsam an der Wiege überreicht haben. Die Engel lächeln, die Teufel grinsen. Die einen reichten uns das Vergessen, damit wir uns lange Zeit unschuldig wähnen dürfen, die anderen, damit Angst in uns wächst, um uns körperlich und seelisch zu zerrütten. Wie lange hätte es bei mir gedauert, bis die Angst mein Künstlertum ruiniert hätte? Wie lange hätte ich meine Untat vor mir selbst verbergen können? Schon in den Wochen, in denen mein Vater mir auseinandersetzte, dass meine Zukunft nur an der Seite des Comte de Carnoth gesichert sein würde, begann mich die Nesselpflanze der Angst zu versengen. Ohne die Katastrophe auf dem Fechtboden würde ich mich vor Seelenpein wahrscheinlich längst verzehrt haben, vielleicht wäre ich auch ins Wasser gegangen oder hätte es gemacht wie Madame Berchod.
Meine Untat vor der Welt zu verbergen wäre kein Problem gewesen. Die Spuren waren zu mager, und mich, die damals sehgestörte Künstlerin als Täterin in Betracht zu ziehen, erschien jedem außerhalb aller Wahrscheinlichkeit. Tatsächlich ist Ludwigs Tod bis heute nicht aufgeklärt. Selbst Petrus erschloss sich mein Motiv erst nach meinem Zusammenbruch auf dem Fechtboden. Die Gewalt, die mir die Baratschen Nonnen antaten, zerstörte nicht nur für über zwei Jahrzehnte meinen Gesichtssinn, sondern legte auch den Keim dafür, dass ich Ludwig erstach.
Was hatte sich damals zugetragen? Dank Petrus weiß ich es jetzt wieder. In mehreren – ich wähle Madame Bonets Begriff – „Ausflügen“ führte er mich immer näher an den Zeitpunkt meiner Tat heran. Eines Tages war es dann soweit: Ich durchbrach die Wand des Vergessens.
Ich war nackt, bereit, mich Ludwig zu schenken. Wir hatten uns geküßt, er mich gestreichelt. Er stöhnte, aber es war ein seltsames Stöhnen, das mehr ein Schluchzen war. Plötzlich riss er sich von mir los, packte mich bei der Hand und führte meine Finger über in die in seine Fensterscheibe geritzten Buchstaben. Ich wusste von seinen Depressionen, aber als er mir die Wortfragmente deutete, durchzuckte mich der Schreck wie der eiskalte Stoß eines Schwerts: Eines Tages wirst du mich vergessen, Marie-Thérèse.
»Warum, Ludwig?«
»Weil du meine Schwester bist.«
»Das ist nicht wahr!« rufe ich und bekomme das Stilett zu fassen, das auf der Kommode liegt.
Ludwig hat Angst, dass ich mir etwas antun könnte. Seine Hände schnellen vor, direkt in die Klinge. Blind wie ich bin, ziehe ich es zurück, stoße wieder vor und zerschneide ihm unabsichtlich die Hände. Stöhnend vor Schmerz sackt er vor mir
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