Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)
und durchtrennte Vene und Schlagader. Mit gestrecktem Florett kippte er in die Spiegelwand. Glas und Klinge zerbarsten mit hellem Knall.
Philippe badete im Blut – mir aber fiel nichts anderes ein, als ihn vorwurfsvoll anzuschreien: »Sie ist deine Schwester! Hörst du! Deine Schwester!«
Als ob eine Mensch in einer solchen Situation derartige Unwägbarkeiten fassen konnte. Zumal, wenn er selbst heftige Schmerzen litt und unter dem Schock stand, ein Leben auf dem Gewissen zu haben! Der Tumult konnte größer nicht sein: Wie ein überdimensionierter Lumpen wischte Philippe durch eine Blutlache von bestürzender Größe. Stöhnend robbte er auf Marie-Thérèse zu, während ich in kopfloser Verzweiflung versuchte, die Halswunde des Comte mit der bloßen Hand abzudrücken. Es war so sinnlos wie das Geschrei des Priesters und Hippolytes, die sich unmäßig davor grauten, den Bannkreis des Blutes zu überschreiten. Allein Marie-Thérèse, die vor Entsetzen in die Knie gesackt war, kroch auf Philippe zu, der ihr die Hand hinstreckte.
Erreichen sollte sie ihn nicht.
An das langsam verebbende Leben des Comte gebunden, wurde ich gewahr, wie Hippolyte und der Priester sich plötzlich auf Marie-Thérèse stürzten, um sie festzuhalten. Beide gingen einen Schritt hinter ihr die Knie, der eine rechts von ihr, der andere links. Marie-Thérèse begann zu schreien, als sie die Hände spürte, die ihr an den Ellenbogen vorbeirutschten und sich dann in Armbeugen und Oberarme krallten.
Weil sie sich nicht „schmutzig“ machen sollte. Weil wir nicht wollten, dass sie sich mit Blut befleckt. So verteidigten sich Hippolyte und der Priester hinterher. Ich glaube ihnen. Womit ich wieder als Psychiater spreche, der aus eigener Anschauung weiß, welchen gewaltigen Schaden die Physis nehmen kann, wenn das geistige Band der Seele überdehnt oder gar zerrissen wird.
Die Geschichte des Ehnheimer Bauern, dessen Frau vor dem Bildstock der Heiligen Odilia betete, sei vorangestellt. Wie ich bereits an anderer Stelle andeutete, gelang es mir, den Mann wieder sehend zu machen. Er war der Bruder eines Strasbourger Glasbläser-Meisters, der Mitglied einer Freimaurer-Loge war. Die Loge war nicht unbedingt die erste Adresse in Strasbourg, aber auf jeden Fall benötigte sie ständig Mitglieder, um deren kostenintensive „Weihe-Schmausereien“ auch weiterhin im gewohnten Umfang zelebrieren zu können. Eines Tages war es dann soweit: Der Glasbläser-Meister hatte seinen Bruder überzeugt, dass ein Eintritt in die Loge auch in dessen Leben mehr Licht bringen würde. Die düsteren, mit allerlei Mummenschanz und Todessymbolik befrachteten Initiationsprozeduren jedoch verängstigten das Gemüt des Bauern dermaßen, dass er, als ihm an Ende dieser dämonischen Prüfungen die schwarze Binde von den Augen genommen wurde und ihm eine Phalanx von Degenspitzen ins Gesicht starrte, schlagartig erblindete.
Mir gelang es nun, den Unglücklichen so weit zu hypnotisieren und dabei in die Vergangenheit zurückzuführen, dass er alle Schrecknisse des Aufnahmerituals noch einmal durchlebte, mithin erzählte. Ich brachte es fertig, dem Mann klarzumachen, dass er lediglich vergessen hatte, wie das Licht beschaffen sei, weil er fürchte, wieder Degenspitzen zu sehen. Indem ich sein Vertrauen gewann, ließ er sich darauf ein, wieder sehen zu wollen: Ich trat von hinten an ihn heran, legte die Daumen auf seine Augäpfel und befahl ihm, während ich ihn schlagartig aus der Hypnose holte, seine Frau anzuschauen.
Noch am selben Abend konnte er fast wieder so gut sehen wie vor der freimaurerischen Initiation.
Ähnliches nun war Marie-Thérèse im Baratschen Pensionat widerfahren: Ihre Initiation aber war noch grausamer gewesen. Sie überkam mich wie eine Art Vision, als sie wie ein Wesen aus einer anderen Welt zu schreien begann, während Hippolyte und der Priester ihr die Arme nach hinten zerrten.
Die Worte des Abbé ließen eine fürchterliche Szene in mir lebendig werden. Ich sah ein kleines Mädchen, das Besuch von Vater und Mutter bekommt. Es freut sich darauf, aus der düsteren Atmosphäre des Baratschen Pensionats endlich wieder in die Geborgenheit des Gutes zu gelangen. Doch Vater und Mutter haben andere Pläne: Die kleine Marie-Thérèse, zarte vier Jahre alt, muss in Amiens bleiben. Die Stunde des Abschieds naht. Es gibt Tränen und Beschwichtigungen. Marie-Thérèse, „Mouche“, der Wildfang aber will in die Freiheit. Da geschieht es: An der Tür - das Kind
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