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Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)

Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Liebert
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mondbleich, und der Raum, den es erhellte, erinnerte an eine Galerie im Palais Royal. Um mich herum waren Trümmer wie nach einer Schlägerei: Ich sah gesplitterte Holzrahmen, unter meinen Füßen knirschten Glasscherben. Überall lagen zerfledderte Journale herum, dazu roch es nach Speiseresten, Schnaps und Tabak.
    Ich ging weiter, hörte obszönes Lachen. Plötzlich wurde mir übel: Die Trümmer waren keine Trümmer mehr, sondern hatten sich in menschliche Überreste wie Gliedmaßen, Gekröse, Augen, Nägel, Blutpfützen verwandelt. Ein nie gekanntes Grauen ergriff mich, denn die Menschentrümmer zuckten oder vibrierten. Das Entsetzliche dabei war: Ich wusste sofort, alle Trümmer verspürten Schmerz und waren auf ihre Weise lebendig.
    „Halt, es sind alles nur Symbole deiner Zerrissenheit“, beruhigte ich mich schließlich. „Anklänge an die Bilder, von denen dir Madame Bonet in der Salpêtrière erzählt hat, Fragmente deiner Erinnerungen. Hab keine Angst. Dein Wissen, dass die Trümmer Schmerz empfinden, bedeutet: Stelle dich endlich deiner persönlichen Geschichte!“
    Ich schaute zurück, erkannte hinter dem mondfahlen Chaos-Raum den Korridor, dahinter mein Trumeau, welcher das Tor zu meinem Fauteuil war. Es war leer, was nicht anders sein konnte, denn schließlich war ich ja unterwegs. Ich Fasste neuen Mut, schritt voran. Das Mondlicht wurde freundlicher, das Chaos dieses „Schein-Palais-Royal“ weniger, die Menschentrümmer verwandelten sich zurück. Ich kam auf die Champs-Élysées und stand nach wenigen Schritten vor der Baustelle des Arc de Triomphe, die Fenster der dahinterliegenden Zollhäuser strahlten heimelig golden. Vor Freude war mir nach Tanzen zumute – aber der Schreck war groß, als es im Rundbogen des Triumphbogens plötzlich zu donnern begann und es gewaltige Quader regnete, die spurlos im Boden versanken. Ich begriff im selben Moment, dass es für mich keine Möglichkeit gab, den Triumphbogen zu durchqueren. Ratlos starrte ich in die Ferne und beneidete die Spatzen, die durch den Triumphbogen flogen - sorglos, spielerisch und völlig unbekümmert darum, ob sie in Gefahr geraten oder nicht.
    Die Traurigkeit kehrte zurück, obwohl sie nicht so stark war wie am Anfang des Wegs. „Kehr um!“ sagte ich zu mir. „Du weisst, du musst hindurch, aber erst musst du herausfinden, wie.“ Ich blickte zurück und tat einen Schritt. Hatte ich plötzlich Siebenmeilenstiefel an den Füßen? Denn dieser eine Schritt schon hatte ausgereicht, um mich an den Anfang des Korridors zu bringen – unmittelbar hinter den Spiegel. Kaum, dass ich dies begriff, spürte ich auch schon die Armlehnen meines Fauteuils und betrachtete wieder mein Spiegelbild und die Kerzen im Trumeau.
    Ich darf sagen, dass ich nicht das letzte Mal vor diesem quaderregnenden Arc de Triomph ins Grübeln kam. Der Effekt indes war, dass die Traurigkeit erträglich wurde. Ich fühlte mich von mir selbst an die Hand genommen, ahnte, dass ich den richtigen Weg beschritten hatte. Das Ziel hieß: Ehrlichkeit und zwar Ehrlichkeit zu sich selbst. Endlich konnte ich meiner Untätigkeit den Kampf ansagen, womit das Häufchen Elend aus der Rue Monge wieder verdiente, mit Monsieur Cocquéreau angeredet zu werden. Gemäß den Anregungen des Comte trainierte ich meine hypnotische Gabe, wobei mir mehr als einmal klar wurde, wie läppisch es gewesen wäre, hätte ich den Weg eines Schauhypnotiseurs eingeschlagen.
    Für meine ersten Subjekt-Erkundungen wählte ich die „Mouffe“. Der farbenprächtige Markt in der Rue Mouffetard an der Place de la Contrescarp lag nicht weit von meiner Wohnung in der Rue Monge entfernt und war wie viele echte alte Märkte eine Welt für sich. Straßenmusikanten, Studenten, Schmarotzer, Mütterchen aller Couleur und Schwatzbasen vom Sopran bis zum Baß bevölkerten den Platz, dessen Beschicker all das feilboten, was ein Menschenmagen verdauen konnte.
    Zwischen den Arrangements prächtiger Obst- und Gemüseberge erspähte ich mein erstes Opfer. Es beförderte einen halben Korb Zwetschgen auf die Waagschale und kreischte einen Preis, als ich es mit Hilfe meiner pendelnden Taschenuhr fokussierte. Die Hälfte des Preises, Madame, flüsterte ich eindringlich, die Hälfte des Preises ist schließlich mehr, als selbst Sie für diese Zwetschgen ausgeben würden. Zuerst verdattert, dann gebannt verfing sich die junge Beschickerin in meinen Augen, während ich dasselbe mit anderen Worten wiederholte. Ja, sagte die Frau

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