Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)
Zwischenzeit mit Erleichterung feststellen können, dass mein Auftritt im Salon des Comte keine Revolution in der Psychiatrie ausgelöst hatte und ich von Prior de Coulmier auch noch nicht zum Chefarzt gemacht worden war.
Freiwillig verzichtete ich vorerst darauf, Patienten zu hypnotisieren. Roger Collard hatte dies zwar nicht zur Bedingung gemacht, aber erwartete es stillschweigend. Ich durfte ihm zwar noch einmal in aller Ruhe meine Gedanken einer neuen Psychiatrie erläutern, doch Collard blieb unbeeindruckt. Auf den Punkt gebracht, wollte er nicht darauf verzichten, geistige Verirrungen zu werten und sie damit so genau wie möglich zu klassifizieren. Analyse und Diagnostik hätten das Fundament der Behandlung abzugeben, ich dagegen verlöre mich im „guten Wollen“ und vertraue zu sehr auf die „Apotheose der ärztlichen Person.“
»Sicher, hätte ich Ihre weit außerhalb der Rationalität stehenden Fähigkeiten, würde ich vermutlich genauso reden, Petrus. Aber wo bleibt der normale analytische Psychiater? Er ist ein Gelehrter, das können Sie nicht leugnen. Sie aber postulieren, er solle eher ein Weiser, Mitleidender, Einfühlender sein. Sie sprechen von komplizenhafter Einheit. Himmel, wo ziehen Sie die Grenze? Allein Ihre Wortwahl ist verräterisch: Sie sprechen von Zauberkraft, der therapeutischen Auslieferung des Kranken an die Magie und Kraft des Arztes und träumen davon, die Irren der Richtkraft ihrer zweifelsohne gut gemeinten Befehle unterwerfen zu können. Im Einzelfall mag dies funktionieren, doch wehe uns, wenn sich ein plötzlicher spektakulärer Fortschritt verliert und in destruktiver Regression endet. Irre sind irr, weil sie sich nach den herrschenden Normen nicht normal verhalten. Aber diese Bonet war ja nicht eigentlich irr. La Belle Fontanons Beinlähmung beruhte meines Erachtens auf einem abnorm gesteigerten Muskeltonus. Die Folge einer Neurose. Und warum? Sie hatte es einfach satt, die Beine breit zu machen, und verordnete sich selbst eine Zwangspause.«
Dann habe ich also bloß Glück gehabt, resümierte ich am ersten neuen freien Wochenende, als ich mich in meinem neuen Lieblingsrestaurant an der Ecke Rue de la Juiverie, Rue Christoph, wenige Schritte von der Petit Pont entfernt, zu Tisch setzte. In der Tat, grübelte ich, wenn La Belle Fontanon nur in dem Maß suggestibel gewesen wäre, wie die Obst-und-Gemüse-Beschickerin, was wäre dann? Wo stündest du jetzt?
Als mir das Couvert aufgelegt wurde, dachte ich an Madame Bonet, die ich tags zuvor noch abends besucht hatte. Was sie mich hatte erleben lassen, war abenteuerlich und außergewöhnlich, wenn nicht gar beunruhigend. Marie Bonet offenbarte in Trance nicht nur Erinnerungen aus dunkelster Kinderzeit, sondern auch Erlebnisse, die sie in den Ohnmachten und depressiven Zusammenbrüchen nach ihrer Fehlgeburt gemacht hatte. Im Wachzustand wusste sie zwar, dass sie in Ohnmacht gefallen war, was sich während ihrer Ohnmacht aber in ihr abgespielt hatte, blieb ihr verschlossen. Befand sie sich jedoch in Trance und unternahm ihre Ausflüge, gelang ihr eine Art Hellsehen, das gleichsam durch die Hüllen der Ohnmacht reichte. Dabei konnte sie in die Ohnmachtszeit eintauchen und nicht nur sich belauschen, sondern hinterher auch berichten, was andere in dieser Zeit getan und gesprochen hatten. Mehr noch, sie gab vor, in Trance sogar in der Lage zu sein, ihre Seele soweit aus den Schächten ihres Leibes und Kopfes zu befreien, dass sie sich in die Zukunft vorträumen könne.
»Ich sitze am Webstuhl der Zukunft, Petrus. Was ich erlebe, weiß ich, ist wahr. Aber sobald ich etwas verstehen möchte, fliehen und verbergen sich die Fäden.«
»Marie, Sie brauchen weder Gemälden noch Prospekten hinterherjagen. Es sind Trugbilder. Zusammengesetzt aus Ihrem Welthorizont und Ihren Wünschen, vor allem aber Ängsten.«
»Nein. Ich sehe den Faden der Zukunft, den meinigen und den Ihren. Wie eine unentwickelte blutjunge Idee entspinnt er sich in dieser Sekunde und schwingt peitschengleich in die Zeit.«
»Marie!«
»Petrus, ich fühle.«
»Was?«
»Den Wahnsinn. Böses.«
So gut das Essen war, Lauchsalat, Bouillon, Kaldaunen mit Knoblauch, Lammkotelett und Apfelkuchen, ich bekam diese letzten Worte nicht aus dem Kopf. Es gelang mir nicht, sie als Geraune eines Sonderlings abzutun. Es war, als habe Marie Bonet nur ausgesprochen, was ich selbst seit ein paar Tagen fühlte.
Es hatte mit Sébastien zu tun, eben jenem Sébastien Soulé aus
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