Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)
Charenton, dem jüngsten Sohn des Bürgermeisters. Der Junge war vierzehn Jahre alt, und seine fanatischen Augen hatten mich hin und wieder beschäftigt. Bei Sébastien lag in der Tat etwas im argen. Prior de Coulmier hätte ihn gerne zum Pensionär gemacht, aber da sich dies aus einsichtigen Gründen verbot, sollte Sébastien zu Hause betreut werden. Und zwar vom berühmten Retter La belle Fontanons, „unserem Arzt mit dem weichen Herzen“. Für de Coulmier war es Ehrensache, dem Sohn des Bürgermeisters zu helfen, auf der anderen Seite stand er unter Erfolgsdruck.
»Sie bekommen das in den Griff, nicht wahr?«
»Immerhin hat der Junge eine Psychose. Oder ist ein Maniker, wenn Sie das lieber hören.«
»Worte. Begriffe. Er ist nicht richtig im Kopf. Ist er wieder gesund, sind Sie hier der Chefarzt. Ist das kein Anreiz?«
Unser Prior zog sein Taschentuch und schneuzte sich. Dann winkte er in schlimmster Aristokratenmanier: Petrus, Sie sind entlassen, aber enttäuschen Sie mich nicht.
Was war nun mit Sébastien? Seit Gott seine Eltern am ersten Septembertag mit einem Töchterchen beschenkt hatte, begann er unter quälendem Juckreiz zu leiden. Tinkturen und Salben halfen genausowenig wie die Einflüsterungen runzliger Besprecherinnen. Im Gegenteil, je mehr die Eltern auf Hilfe von außen setzten, um so schlimmer wurde Sébastiens Juckreiz nebst der Weigerung, seine Schwester Esther zu berühren.
»Erst muss ich mich geschält haben! Niemand darf mich hindern. Es ist meine Haut und meine Prüfung!«
So interessant dieses Bekenntnis klang, Sébastiens Mutter war es nicht mehr als eine Ohrfeige wert. Ach, immer diese lästigen Erziehungspflichten, stöhnte sie, worauf sie sich wieder ihrem rosigen Estherchen zuwandte: Sie war der neue Liebling, Sébastien hingegen nur noch das Brüderchen.
»Wieso Prüfung?«
Ich bat Madame Soulé, mich und Sébastien allein zu lassen. Der Junge bewohnte ein behagliches Zimmer, besaß sogar eigene Bücher. Sébastien, noch schlaksiger und sommersprossiger als im Sommer, ließ sich in sein widerlich quietschendes Leder-Fauteuil fallen und riss sich die vereiterten Verbände von den Armen. Dabei lächelte er diabolisch und schien alles daranzusetzen, mich zu beeindrucken. Kaum waren die Verbände herunter, hieb sich der Junge die Fingernägel ins Fleisch und kratzte sich den eitrigen Schorf auf. Anschließend zog er sich das Hemd über den Kopf und entblößt seine Brust. Sie war kaum weniger zerkratzt als die Arme, zeigte sogar lange Schnittwunden.
Ich glaubte, Bescheid zu wissen. Sébastien litt unter Eifersucht, die er sich jedoch nicht eingestehen wollte. Dafür bestrafte er sich, indem er sich zu schälen beabsichtigte. Das Problem dabei war: Wo hörte die Eifersucht auf und begann der Hass?
»Wieso Prüfung?« fragte ich noch einmal und bemühte mich, Sébastien mit den Augen zu fangen.
Doch Sébastien schüttelte nur den Kopf. Er sei kein Weib, beschied er mir herablassend, womit er mir zu verstehen geben wollte, dass bei ihm sämtliche Suggestionsversuche zwecklos seien. Doch Sébastien überschätzte sich, beziehungsweise unterschätzte meinen hypnotischen Blick: Nach einer Weile nämlich begann er wie gedankenverloren zu flüstern, irgendwann werde Esther ihn lieben. Bis dahin aber müsse er sich einmal ganz und gar geschält haben. Dies sei die Prüfung.
»Du kratzt dich in Wahrheit also nur Esthers wegen?«
»Wo sie mich doch nicht mag! Immerhin hat sie Mama und Papa verboten, mich lieb zu haben.«
Sébastiens Stimme wurde hart, die Augen kalt und leblos wie die eines Fischs.
»Sébastien?«
»Ja?«
»Esther ist ein Säugling. Wir beide haben sie vorhin plärren hören. Woraus ich folgere, dass sie Mama und Papa nichts verbieten kann - so ist das nun mal mit der Vernunft. Aber auch wenn du anderer Meinung bist, ich sage dir auf den Kopf zu: Wenn du dich eines Tages völlig geschält hast, dann wird dich Esther erst recht nicht lieb haben. Wer mag schon einen Bruder, der aussieht wie ein nässendes Stück Pferdefleisch? Du stinkst jetzt schon nach Eiter. Bist du irgendwann ganz roh, wirst du in Dämmerung leben, weil die Schwärme der Schmeißfliegen, die sich an dir festsaugen, so groß sind. Im übrigen wird jeder Hund nach dir schnappen! Mal ehrlich, willst du das?«
Im Anschluß versuchte ich, Sébastien vor Augen zu führen, wie wenig anziehend eine geschälte Schwester für einen Bruder sein würde. Dann verabschiedete ich mich von ihm und trug ihm auf,
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