Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)
Schuppen nach einem Spaten zu suchen, blieb ich jedoch sitzen. Noch einmal rief ich mir die Bilder ins Gedächtnis, wie ich sie so oder ähnlich immer wieder erlebte: Michel, der unter meinem Blick gefügig wurde wie eine Wachspuppe und der Schnauzer, der sich für Momente davon hatte irritieren lassen.
»Und du kannst es doch.«
Was ließ ich mich irre machen! Was zweifelte ich! Das Geheimnis der rätselhaft erscheinenden Dinge besteht zu oft darin, dass es kein Geheimnis gibt. Ich wusste doch um meine Augen und meine Stimme! Sie waren mein Kapital, und ich lebte von den Zinsen. Allein dieser Gabe verdankte ich meinen guten Ruf bei den Pensionären, wegen ihr konnte ich fast völlig auf Repressionsmittel wie Zwangsjacken und Duschbäder verzichten. Der Haken war, dass mir dieses Kapital bislang viel zu wenig Zinsen eintrug, denn Prior de Coulmier und Chefarzt Collard sahen keinen Grund, diesen natürlichen Schatz angemessen zu vergüten. Dabei hatten sie selbst mehrfach erlebt, wie leicht es mir gelang, selbst Tobsüchtige zu zähmen. Langes ruhiges Anblicken genügte, und wenn ich dabei mit meiner Stimme zauberte und sagte: „Es wird gut und besser, alles schwimmt im Fluss davon, das Böse, der Zorn, der Hass“ – dann verloren sich Aggressionen wie kochender Dampf im Wind.
Freilich gab es auch Psychopathen, die mich, wo immer sie mich witterten oder sahen, am liebsten auf der Stelle zerrissen hätten. Leider war genau dies der Grund, weshalb Chefarzt Roger Collard meiner suggestiver Gabe so wenig zutraute und im Grund seines Herzens nichts von ihr wissen wollte. Rückwirkend betrachtet ließ sich schon damals nicht leugnen, dass mein Wirken in Charenton in eine Sackgasse geraten war. Allein, dass ich fünf Tage die Woche in dieser ländlichen Langweiligkeit verbringen musste, war ein Opfer. Es bedeutete, fünf Tage lang Einsamkeit zu ertragen und gegen Abstumpfung zu kämpfen. Denn dort, am Bois de Vincennes, lebte man ganz und gar irdisch. Und zwar von Holz, Jagd und Fischerei. Zusätzlich ernährte die Marne noch zwei Müllerfamilien und eine Papier- und Sägemühle. Man arbeitete für Paris, besaß als einzige Attraktion eine klobige Brücke und konnte sich ansonsten nur rühmen, seit 1660 Geisteskranke zu beherbergen, zu denen im Ancien Régime auch politisch Unbequeme gezählt worden waren. Einzig aus diesem Grund hatte König Ludwig XVI. 1785 befunden, die Gegebenheiten und therapeutischen Gepflogenheiten Charentons wären für die Pensionäre „günstig“ – eine Einschätzung, die bis 1792 selbst die Revolutionäre geteilt hatten. Trotzdem kamen sie im säkularen Überschwang überein, die Institution im April zu schließen. Freilich nur bis zum Juni 1797, denn nicht alle Familien wollten, dass „ihre Irren“ in den damaligen Höllen von Bicêtre oder der Salpêtrière im eigenen Unrat verreckten.
Soweit die äußeren Umstände. Die Luft, das gute Wasser und die Ruhe des nahen Waldes schonten im Sommer zwar die Konstitution, in den übrigen Jahreszeiten jedoch hatte ich mich damit abzufinden, unter der Woche vor allem Verzicht, Langeweile und Stumpfsinn zur Gesellschaft zu haben. Mit Frau und Familie wäre alles vermutlich ein gutes Stück erträglicher gewesen, was mich damals aber vor allem verstimmte, waren die sich häufenden Auseinandersetzungen mit Chefarzt Roger Collard.
Collard war strikter Somatiker, der sämtliche Geisteskrankheiten auf physische Ursachen zurückführte. Gehirn und Nerven waren für ihn Organe wie alle anderen auch. Psychologische Gebrechen, die er hypochondrische Phantasmen nannte, gestand er nur Frauen zu. Ich glaube behaupten zu dürfen, dass meine Frustrationen im selben Maß wuchsen wie die Mengen von Calvados, die Collard konsumierte. An jenem Freitag war das Fass übergelaufen. Gereizt hatte ich ihm vorgeworfen, wie borniert und hirnverbrannt ich es fände, mir ständig anhören zu müssen, meine mantrische Redebegabung und die damit verbundene magisch suggestive Autorität bei den Pensionären sei kein „substantielles Therapeutikum“, sondern höchstens ein „akzidentielles“.
»Warum um alles in der Welt stehen Sie den positiven Aspekten meiner Gabe bloß so ablehnend gegenüber? Himmel, sie mag nicht mehr als ein Werkzeug sein, aber es ist eines, das seine Bestimmung in dem findet, was es auszurichten vermag. Ein Hammer ist dazu da, zu schlagen, ein Schraubstock, Werkstücke festzuhalten, ein Hebel, Lasten zu heben. Das Wesen dieser Werkzeuge besteht
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