Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)
in dem Zweck, zu dem sie angefertigt wurden. Und der Herr, unser aller Gebieter, hat mich hierher zu den Barmherzigen Brüdern geschickt, um diese Gabe anzuwenden. Sie sind doch ein gottgläubiger Mensch! Warum leugnen Sie meine Bestimmung!«
»Ihre Bestimmung! Lächerlich. Was soll dieses religiöse Pathos, Petrus. Sicher, Ihre Gabe ist Teil von Ihnen, aber die Weltweisheit hat bis heute erkennen müssen, dass alles nicht nur um seiner Funktion da ist, sondern sich mitunter auch verselbständigt und einen eigenen Willen entwickelt. Mit anderen Worten: Bisweilen geschieht etwas, das Ihren guten Absichten zuwiderläuft. Sie erkennen dies erst, wenn es zu spät ist. Davor will ich Sie und unsere Pensionäre bewahren.«
»Ich sag es Ihnen offen ins Gesicht, Roger, Sie haben nichts als Angst vor mir. Angst! Ganz einfach, weil Sie um Ihren Platz hier fürchten, Sie Calvadosianer. Schönes Wochenende noch! Sie sind einfach unbelehrbar.«
Calvadosianer! Ja, das traf es. Und war doch nichts anderes als die elegante Umschreibung der Tatsache, dass Roger Collard ein strammer Trinker war vor dem Herrn, der, stünden Calvados und Frömmigkeit zueinander in einem Verhältnis, ein Heiliger sein müßte.
Mir kam der Gedanke, meine Wortschöpfung in meinem Gastronomie-Führer aufzunehmen, doch um nicht zu sehr abzuschweifen: Ich, noch immer stur auf der Bettkante sitzend, musste mich der Tatsache stellen, den Chefarzt beleidigt und einem Schnauzer das Genick gebrochen zu haben. Beides würde ein Nachspiel haben. Was die Sache mit dem toten Schnauzer betraf, war ich zuversichtlich, schließlich war ich Arzt und Psychiater und Michel nur der Sohn des Stadtschreibers.
Also, sagte ich mir, greife endlich zum Spaten!
Doch nichts geschah. Irgendwelche Mächte waren dagegen.
Zwei Minuten später änderte sich mein Leben von Grund auf. Auch wenn das Schicksal mich in den vergangenen Jahren nicht unbedingt in gerader Richtung hatte laufen lassen, jetzt kam ich dort an, wo der Weg eine scharfe Biegung machte. Ging ich im übertragenen Sinn bislang auf verschwimmendem Sand, betrat ich nun konturiertes Pflaster, und meine bisher geräuschlosen Schritte begannen zu klingen. Genausogut aber kann ich behaupten: Die Zeit war gekommen, dass ich das Gewand des Arztes und Psychiaters abstreifte und stattdessen in den Mantel des Hypnotiseurs und Kriminologen schlüpfte.
Gleich an dieser Stelle sei verraten, dass der „Fall Bonet“, der diese Wende einleitete, an sich wenig spektakulär war. Insgesamt gesehen jedoch half Marie Bonet mir zu erkennen, wie außergewöhnlich meine suggestiv-hypnotischen Kräfte waren und mit welch geringer Anstrengung ich sie zu meinem Vorteil einsetzen konnte.
Es war gegen acht Uhr. Das Türklopfen Monsieur Bonets riss mich aus meiner Starre. Er war ein vierschrötige Mann, mir aber auf den ersten Blick nicht unsympathisch, da er angenehm nach Gewürzen duftete. Auf jeden Fall aber war dieser Mann den Tränen nahe, und das musste etwas mit der Frau zu tun haben, die er auf den Armen trug wie ein Hochzeiter seine Braut.
»Man hat mir gesagt, Sie seien Arzt, aber auch einer für die Seele und den Kopf. Einer aus dem Hospiz. Bitte helfen Sie mir! Das ist Marie, meine Frau. Sie will nicht mehr. Will nicht mehr sein. Ach, ich bin am Ende. Ich habe alles falsch gemacht.«
Ohne weiter zu fragen, drängte er sich durch die Tür und legte seine Frau in meiner Stube behutsam auf der Chaiselongue ab. Was war passiert? Marie, erfuhr ich, sei nach einer Fehlgeburt zunehmend in Depressionen versunken und habe beschlossen, sich zu Tode hungern. Im Gartenhaus der Familie sollte sie wieder zu Kräften kommen, aber ausgerechnet hier, so Monsieur Bonet verzweifelt, wo die wahnsinnig machenden Glocken von Paris nicht mehr zu hören seien, wurde alles so schlimm, dass sie nun schon fast hinüber sei.
Monsieur Bonet war ein Hüne von Mann, aber er hatte die Seele einer besorgten Mutter. Und als seine Frau dann für einen Moment die Augen öffnete, konnte ich gar nicht anders, als zu helfen.
Denn Madames Augen – das war wie ein Déjà-vu.
Mir stockte der Atem, und die Zeit löste sich auf. Einen Moment lang schien es mir, als stürze ich in einen Schacht, der mich geradewegs in die Vergangenheit führte. Bedrohliche Gefühle und Bilder wogten auf und machten aus mir wieder jenen siebzehnjährigen Jungen, der so hilflos und voller Schuld steckte, dass er sich in eine Ohnmacht flüchtete. Denn wieder sah ich braune Rehaugen vor
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