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Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)

Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Liebert
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mir, die fragenden, ängstlichen, nicht verstehenden, zornigen Augen meiner Schwester Juliette.
    »Nein, nicht ins Hospiz«, hörte ich mich sagen. »Ich begleite Sie nach Paris. In die Salpêtrière.«
    Als Monsieur Bonet und ich zwei Stunden später im Faubourg Saint Victor in der Salpêtrière, dem neuen Hôpital National, vorstellig wurden, überfiel mich die Ahnung, dass auch hier, unter der Kuratel des großen „Irrenpapstes“ Philipp Pinel, Marie Bonet nicht würde geholfen werden. Selbst ein Pinel, sah ich voraus, würde diesem Reh von Frau falsch begegnen und sie nur quälen. Ich sah lediglich einen Ausweg: Ich musste die Sache selbst in die Hand nehmen, wozu ich Marie Bonet kurzerhand zu meinem Schützling erklärte und beschloss, sie mit der bloßen Kraft meines Willens und meiner suggestiven Fähigkeiten zu heilen.
    Erst einmal jedoch musste ich mich um Monsieur Bonet kümmern. Ich sprach ihm Mut zu und versicherte ihm, mich persönlich für das Wohlergehen seiner Frau einzusetzen. Denn Madames bärenstarker Mann war mit seinen Nerven am Ende. Stumm begann er zu weinen, als der Nachtpfleger erschien, ihm seine Frau aus dem Arm nahm, in einen Rollstuhl setzte und grußlos mit ihr davonfuhr. Ich empfand echtes Mitleid für Monsieur Bonet, der ein weiches Herz hatte und sich seiner Tränen nicht schämte. Haselnußgroß waren die Tropfen, die ihm über die Wangen liefen, Tränen, wie ich sie so schwer und schillernd noch nie gesehen hatte.
    »Vertrauen Sie mir«, sagte ich zum Abschied und war so kühn, ihm zu versichern, dass er seine Frau binnen einer Woche wieder gesund in die Arme schließen könnte.
    Vierundzwanzig Stunden später dann saß ich das erste Mal Jean Etienne Dominique Esquirol gegenüber. Neben Pinel, dem er assistierte, war Esquirol die zweite Koryphäe der neuen Psychiatrie. Mittlerweile fünfzig Jahre alt, hatte er vor vier Jahren, 1818, eine Kommission zur Untersuchung und Abstellung der Mißbräuche in den Irrenanstalten veranlaßt und darauf basierend eine Denkschrift verfasst, die bereits ein Jahr später Wirkung zeigte: Die von Pinel geforderte Entflechtung von Zucht- und Tollhäusern wurde nach und nach umgesetzt, und in der Salpêtrière wurden die Zellen zu Zimmern. Die Losung hieß: Dielen statt Stein, Fenster statt Ketten. Der Ochsenziemer wurde ausgemustert und der Speiseplan mannigfaltiger. Gleichwohl war Esquirol ein Moralist, was in der Salpêtrière all diejenigen Frauen zu spüren bekamen, die sich religiösen Obsessionen hingaben, klauten, andere mit unkeuschen Handlungen belästigten oder über das Essen maulten.
    Esquirol war gereizt. Gewiß war er überarbeitet, trotzdem aber paßte mir der Ton nicht, mit dem er über meinen Schützling sprach: Marie habe sich, kaum sei sie in ihr Zimmer gebracht worden, mit geradezu wollüstiger Gier in ihre Depression und Schwäche hineingearbeitet. Jedes nur erdenklich essbare Ingrediens, murrte er, habe sie mit theatralischer Inbrunst zurückgewiesen.
    »Richtschnur meines Handelns ist es, mit jedem Patienten selbst zu sprechen, wenn es irgend geht. Aber diese Bonet – ich bekenne, ich spielte heute morgen mit dem Gedanken, sie in die Zwangsjacke zu stecken. Dann: Türschlüssel zwischen die Zähne stecken, drehen und rein mit dem Trichter. Ich habe mir den Mund fusselig geredet, bessere Mahlzeiten finanziert zu bekommen, und jetzt ist es endlich soweit. Aber was erleben wir hier? Proportional zur Gewißheit, satt werden zu können, steigt die Anzahl derjenigen, die hungern wollen! Irgendwie glaube ich, bringt diese Bonet das Fass bei mir jetzt zum Überlaufen. Eine lächerliche Fehlgeburt, und sie maßt sich an, zu Tode depressiv sein zu dürfen! Eine Perversion! Dazu diese sentimentale Religiosität! `Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Halten Sie es ebenso mit mir. Seien Sie gerecht, wie die Worte der Heiligen Schrift. Lassen Sie mich einfach sterben.‘«
    Esquirols gehässige Imitation versetzte mir einen Stich ins Herz. Tief enttäuscht von diesem Mann, schaute ich zu, wie er mit der flachen Hand eine Fliege erschlug. Zufrieden mit diesem Sieg, überließ sich einer von Frankreichs großartigsten Ärzten minutenlang einer konzentrierten Fliegenjagd. Damit ich auch wirklich begriff, wie wütend er war, stieß er bei jedem Schlag einen Namen hervor: Bonet, Charron, Muzzel, Lorry! Vier unbeugsame Charaktere, vier Patientinnen, die Esquirol am liebsten in die Zwangsjacke gesteckt hätte.
    »So, alle tot!« Natürlich

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