Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)
irgendwelche Exzesse, und an jenem Freitagabend war es wieder besonders schlimm gewesen.
Wie gesagt, ich wollte nach Paris.
Zuvor hatte ich einem der „Schließ-Brüder“ eine saftige Standpauke halten müssen, weil dieser einem Dementen, der bei der Essensausgabe nicht mit ihm beten wollte, den Ochsenziemer durchs Gesicht gezogen hatte. Immerhin, wenigstens versprach der „Bruder“ für die Zukunft behutsameren Umgang. Aber, hatte er zu bedenken gegeben, beim Beten müsse sich auch ein Dementer zusammenreißen.
»Die Hände zu falten und einmal Amen zu brabbeln – Herrgott, das darf ein Barmherziger Bruder doch verlangen. Oder nicht? Schließlich haben wir dafür zu sorgen, dass auch Pensionäre ihren Anteil am Glauben, der Kirche und dem Himmelreich bekommen.«
»Einem Dementen können Glauben, Kirche und Himmelreich aber niemals mit dem Ochsenziemer vermittelt werden. Zur Hölle mit dem Ding!«
Ich war ich noch immer aufgebracht, als ich auf dem Marktplatz in den Coiffeur-Salon trat - ein Laden, der genau wie das Hospiz noch nicht im 19. Jahrhundert angekommen war. Mich erinnerte er an die Coiffeur-Kaschemmen des Ancien Regime, wie sie einst Mercier geschildert hatte: Die verschmierten Fensterscheiben wehrten erfolgreich das Tageslicht ab, waren überdies mit einer feinen Schicht Puder überzogen. Spinnen hingen leblos in weißbestäubten Netzen, in den Ecken der Fensterbänke lagen tote Fliegen. Auf einem rohen quadratischen Tisch stand nebst einer Tonvase voller Kämme und Scheren ein offener Tiegel mit fliegenumschwirrter Pomade. Doch trotz dieser wenig einladenden Staffage hatte Coiffeur Baptiste Marchand Kundschaft: Ein triefäugiger Arbeiter aus der nahen Papierfabrik ließ sich fürs Wochenende rasieren. Frisch eingeseift verharrte er bewegungslos unter einem Wachstuch und krähte mir zu, Meister Marchand sei dabei, warmes Wasser zu holen.
Natürlich hatte ich nicht die leiseste Lust, auch nur eine Minute länger als nötig in dieser Lichtfalle zu warten.
»Verzeihung Monsieur«, sagte ich, »könnten Sie dem Meister bitte ausrichten, sich am Montag mit Werkzeug im Hospiz zu melden?«
Anstelle einer Antwort zerbrach klirrend eine Scheibe. Ich rannte ins Freie und brüllte den drei flüchtenden Jungen hinterher, sie sollten gefälligst stehenbleiben.
»Ihr Feiglinge! Glaubt ihr, ihr seid unsichtbar? Ich kenne euch doch! Hab ich Recht, Sébastien?«
Der Angerufene blieb stehen, mit ihm seine Kameraden. Ich winkte die Übeltäter zu mir.
»Ich habe nicht geworfen«, murrte Sébastien.
Er war der Sohn des Bürgermeisters Soulé, vierzehn Jahre alt und für sein Alter reichlich hoch aufgeschossen. Seine Augen hatten irgendwie etwas Fanatisches an sich, einen harten Glanz, wie ihn auch einige Pensionäre zeigten, die ich zu den Psychotikern zählte.
»Gut, du hast nicht geworfen. Wer dann und wieso überhaupt?«
»Michel. Überhaupt war´s eher ein Unfall. Aber da Marchand ein Hugenotten-Schwein ist, kann es so schlimm gar nicht sein.«
Für den Fortgang der Ereignisse spielt es zunächst keine Rolle, ob Sébastien pöbelhafte Vorurteile hatte oder nicht. Michel sprang ihn wie ein Wolf an und riss ihn zu Boden. Gut zwei Jahre älter und bulliger überschüttete er Sébastien mit allen Schimpfwörtern, die er kannte. Doch Sébastien wollte seine Ehre als Sohn des Bürgermeisters verteidigen. Er nahm den Kampf auf, wild entschlossen, sich nicht bäuchlings aufs Pflaster drücken zu lassen. Unter Aufbietung aller Kräfte gelang es ihm, einen Katzenbuckel zu machen und schaffte es sogar, sich aus Michels Umklammerung zu befreien, doch der änderte daraufhin seine Taktik und wurde noch ein Stück rabiater.
»Gib auf!«, rief er, packte Sébastien am Arm und drehte ihn ihm auf den Rücken.
»Du dreckiger Krähenfresser!« Sébastien brüllte auf vor Schmerz. »Und doch bist du ein armer dreckiger Krähenfresser!«
»Schluß!«, befahl ich.
An anderen Tagen hätte ich die Jungen sich noch eine Weile prügeln lassen, doch heute war für mich das Maß an Gewalt erschöpft. Michel und Sébastien dachten allerdings gar nicht daran, aufzuhören.
Sébastien ging in die Knie und robbte ein Stück auf dem Pflaster. Michel ließ ihn einen halben Meter krabbeln – aber nur, um ihn plötzlich in den Schwitzkasten zu nehmen und ihm den Kopf brutal in den Dreck zu drücken.
»Kannst du nicht hören?« Michel konnte es offenbar nicht. Also musste er fühlen: Ich riss ihn an den Haaren zurück und verpaßte
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