Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)
wie seit über tausend Jahren der Bischof von Rom.
»Frédérc«, sagte ich, »wenn ich behaupten würde, dass es Möglichkeiten gibt, vorübergehend das Teufelsfenster in unserem Kopf zu überlisten, würden Sie es einmal erleben wollen?«
»Warum nicht? Blicken Sie mich deswegen so eigenartig an, Monsieur? Wollen Sie den Magier spielen?«
»Wenn ich einer wäre?«
»Probieren Sie´s! Was soll ein alter Kanonier wie ich schon fürchten?«
Der Cognac und das Erzählen hatten Frédéric müde gemacht, und so schaute er bereitwillig auf die pendelnde Taschenuhr, hinter der meine Augen zu zaubern begannen. Bald konnte er sich deren Sog nicht mehr entziehen und war bereit, mir zu folgen. Ich führte ihn zu sich nach Haus in die gute Stube, wo ich ihn bat, sich in seinen Lehnstuhl zu setzen, um ihn dort eine noch tiefere Trance erleben zu lassen. Nun hatte ich kein eigentliches Konzept, wohin ich Frédéric lenken sollte, aber der Instinkt sagte mir: Führe ihn zurück auf das Schlachtfeld von Borodino und wähle den Augenblick, in dem Napoleons Ordonnanz ihm die Burgunderflasche zuwirft.
Frédérics Hände zuckten, sein Mund verriet ungläubiges Staunen. Ich wartete eine Weile und versuchte mir vorzustellen, wie es war, sich mitten im Schlachtgetümmel irgendwo hinter einem Busch eine Flasche Burgunder einzuverleiben. Doch plötzlich stöhnte Frédéric auf, als habe er einen Tritt in den Bauch bekommen.
»Schmeckt der Wein nicht?« fragte ich belustigt.
Frédéric wollte mit normaler Stimme antworten, doch stattdessen brach er in eine Art heiseres Krähen aus.
»Er brüllt mich an: Nichts ist geschehen, kapiert?«
»Und warum brüllt er das?«
Er schnaufte, begann zu röcheln. Sie sollten aufhören, bat er, er werde gewiß nichts sagen. Ich beschwor ihn, was er auch erlebe, er müsse wissen, es sei nicht mehr wirklich, es seien nur böse Bilder, häßliche Flecken der Erinnerung. In Wahrheit sei jetzt das Jahr 1822, und er sitze in einem Café an der Rue de Rivoli. Frédéric entspannte sich. Ich bat ihn, dasjenige, was er gerade erlebt habe, wie ein unbeteiligter Beobachter zu erzählen.
»Als stünden Sie im Palais Royal vor dem Diorama vom Tod des Prinzen Poniatowsky bei Leipzig. Sie kennen es doch? Ja? Jeder kennt es: Die fensterlose Kammer mit dem großen Tisch, der von einem schmutzigen Tuch bedeckt ist, den Monsieur d`Éxplicateur mit der tiefen Stimme und dem bodenlangen Offiziersmantel. Dieser zieht das Tuch weg und beginnt mit der Rezitation, und Sie lauschen seiner näselnden Stimme, seinem Singsang. Ihre Augen wandern zu den Spielfiguren. Genauso ergeht es Ihnen jetzt. Sie sprechen wie der Monsieur d´Éxplicateur aus dem Palais Royal, denn alles ist längst vorbei, Frédéric.«
Mein Vorschlag war erfolgreich. Und so erfuhr ich die wahre und alles andere als gloriose Begebenheit um einen Putenschlegel seiner Majestät und eine Burgunderflasche von deren Ordonnanz. Wie ein Rezitator schilderte Frédéric die beiden hohlwangigen Kanoniere, die sich in blutverschmierten Röcken mit irren Augen auf ihn stürzten.
„Ich rieche Bratfett, kaue, schlucke, sauge, und in der Nähe schlägt eine Trommel im Takt. In der Luft heult es, dann bebt die Erde, und die Trommel schweigt. Ich aber habe nur Angst um die Flasche. Der Korken schwimmt im Wein, ich sehne mich nach dem nächsten Schluck. Meine Wangen fühlen sich fettig an, zwischen meinen Zähnen hängen Fleischfasern, auf meiner Nase klebt ein Stück Haut. Ich mümmle wie ein Greis, so schön ist der Geschmack, aber sie fallen über mich her, treten mich in den Unterleib und prügeln mit dem halb abgenagten Schlegel auf meinen Kopf. Ich will ja teilen, schreie ich, aber da haben sie mich schon auf den Rücken gerollt und einer hält mir das Messer an die Kehle, während der andere mir die Fasche entreisst. Er trinkt so gierig, dass es ihm aus dem Mund läuft und mir in die Augen tropft. Ich strecke die Zunge aus, wische mir Fett und Wein gleichzeitig in den Mund. Als ich mich aufsetze, kämpfen die Kerle um jeden Tropfen, kommen kaum zum Schlucken. Der Wein rinnt aus ihren Mündern, ich versuche ihn mit der hohlen Hand aufzufangen und reibe mir alles übers Gesicht.
Dann ist die Flasche leer. Und ich bekomme wieder Tritte.
‚Ich weiß, es ist nichts geschehen!‘ brülle ich. Es ist nichts geschehen! Ich rapple mich auf, taumle voran. Zwei Kugeln pfeifen so dicht an mir vorbei, dass ich ihren Luftzug spüre. Aber im Mund habe ich den Geschmack des
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