Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)
strammsten Jakobiner forderten nicht von ungefähr, sogar die Kirchen abzutragen, weil sie durch das Hervorragen über andere Gebäude den Grundsatz der Gleichheit verletzten. Genauso dachten sie von den Menschen. Je mehr Köpfe rollten, um so gleicher der Rest, die Massen, alle. Ja, Menschen wie Robespierre, der sah nur noch zu lange Spargel, wenn er sein Kopffenster öffnete. Gar nichts anderes mehr. Verstand und Seele waren von hinten bis vorne auf die Égalite gerichtet. Was er sah und fühlte, war: kürzen, gleich machen. Die Henkers, also die Sassons, waren übrigens ganz umgänglich. Ich seh´s noch vor mir: ihre höflichen Gesten, mit denen sie die Delinquenten baten, sich auf die Schragen zu legen. Sie wurden drauf verschnürt und zwar so, dass nur Kopf und Hals über das Holz ragten. Darauf wurden die Menschenbrote in ein eigens dafür gebautes Gerüst gestapelt. Es stand am Fuß des Schafotts, und das mitanzusehen war schlimmer als die Guillotine. Wie Brote auf Backbrettern, genauso sah es aus! Die Leiber reglos geschnürt, aber die Köpfe, die wanden sich hin und her! Mit Gesichtern drauf, wie wenn einem Kind in einer fremden Stadt die Mutter weggelaufen ist. Und dann auf Kommando: erster Brotleib auf die Kufe, Halteholz drüber, Sicherungsstifte rein, Drei-Sekundengebet und dann Ramme runter. Ja, das waren große Tage. Und die Köpfe, ich schwör`s, sie haben das Fallbeil gespürt, geradezu erlebt! Da ist nichts mit ab und dann aus. Alle Köpfe, die ich gesehen hatte, zeigten einen schmerzverzerrten entsetzten Ausdruck. Aber, Monsieur, was ich meine, ist: Robespierre hatte nur sein eines Fenster, und das zeigte auf´s Schafott. Aber wie Robespierre hat jeder von uns auch nur sein eines Kopffenster! Der Arme sieht, wenn er rausguckt, immer nur das Elend seiner Wände, und ist er woanders, dort auch nur Dreck, Bedrückung, Verzweiflung. Er ist arm, also sieht und fühlt er sich unablässig arm und lässt sich täglich und unentwegt davon blenden. Er ist eine Kreatur, deren Hirn ihn nur fiese Löcher sehen lässt. Aber dem Reichen geht es nicht anders! In seinem Hirn baumelt ein Kronleuchter, und die Klunker daran, ihr Lichtspiel, machen ihm alles glitzernd, neckisch, freundlich, erotisch. Sein Hirn sieht das Leben als Palast. Gemeinsam ist beiden: Jeder erliegt seinen eigenen Lebensumständen, ist Sklave seiner Erlebnisbilder, die sein Schicksal für ihn bereithält. Aber wir wissen darum! Spüren genau, wie wir uns selbst Gefangene sind. Also möchte jeder umgekehrt ein Ich sein und ein ganz besonderes Ich haben. Gleich mit dem Nachbarn möchte er auf keinen Fall sein. Ich bin ich, sagt er prahlerisch, aber das soll für alle anderen nicht gelten. Die sind Masse und sollen es tunlichst bleiben, sonst wär´s ja aus mit dem eigenen Ich-Sein. Und deswegen bauten die Menschen Pyramiden, erfanden die Guillotine und die Dampfmaschine, malen, dichten, komponieren und lieben die Mode und den Kampf. Alles Anstrengungen, um das Ich zu retten. Die Krönung ist, wenn wir uns fortpflanzen. Wir machen Kinder, also sind wir, womit wir der Verdammnis unseres Kopffensters zu entkommen glauben, seine Bilder aber doch nur an die nächsten Generationen vererben.«
Frédéric griff zur Fasche und schenkte bedächtig den Rest Cognac aus. Das Café hatte sich bis auf vier Gäste geleert. Der Kellner räumte die Tische ab, Gläser klirrten, es roch nach ausgeblasenen Kerzen.
Ich räkelte mich, alles körperliche Unwohlsein war verschwunden. So ähnlich muss es Marie Bonet gehen, wenn ich sie aus ihrer Trance hole, dachte ich, und auf einmal kam es mir vor, als seien auch meiner Seele Flügel gewachsen. Mein Herz schlug leichter, und ich hatte das Gefühl, mir seien ein paar klobige Erinnerungssäcke von den Schultern gerutscht. Es war mir nicht wichtig, ob Frédéric recht hatte, nein, was zählte, war, dass er mir im richtigen Moment Zuversicht eingeflößt hatte. So genoß ich den letzten Schluck Cognac und war für einen Moment so voller Überschwang, dass ich mein leeres Glas am liebsten gegen die Wand geschleudert hätte. Du stellst doch etwas dar, tönte es wohlig in mir. Deine Gabe ist einzigartig! Himmel, es ist Zeit, dass du sie endlich sinnvoll anwendest. Mach Geld! Hilf Kranken! Umgieb dich mit Frauen! Du bist Petrus, der Hypnotiseur! Vater gab dir den Namen, weil du stark und fest sein solltest wie ein Fels. Zerbrich nicht an deinen Erinnerungen wie ein morscher Ast, sondern gib dich ab morgen genauso unbeirrbar
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