Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)
Burgunders. Dann sehe ich meine Batterie und höre die Zugpferde wiehern. Ihr Angstschweiß tränkt die Luft, und oh, ich beginne alle Pferde der Welt zu hassen. Weil ihr Schweißgeruch stärker ist als der des Bratfetts an meinem Kinn.“
Mehr brauchte ich nicht wissen. Ich sagte, es sei genug, und führte Frédéric aus dem Diorama seiner Erinnerungen zurück in die Geborgenheit seiner Stube, damit er sich in seinem Lehnstuhl wieder erholen konnte.
»Frédéric«, fragte ich sanft, »wollen wir jetzt eine Flasche Burgunder trinken?«
»Bei Gott, ja. Das will ich.«
Wir schlossen Freundschaft. Gleichzeitig nahm ich mir vor, so bald wie möglich den Comte zu besuchen. Schließlich kannte der den Bankier Boissieu, und Boissieu würde als Zeuge der spektakulären Heilung La Belle Fontanons sicher einen günstigen Kredit für eine Praxis bereitstellen.
Doch so einfach war das alles nicht. Womit ich freilich nicht den Kredit meine, sondern das Drama „Marie-Thérèse, ihr Onkel, meine tote Schwester und ich“. Mein Trumeau vertrug einfach noch keinen lächelnden Petrus. Es wollte den verzagten Cocquéreau, einen, den vor dem Arc de Triomphe zuerst das gewohnte Schaudern ergriff, bis er plötzlich Gefallen an dem Spekatakel der niederregnenden Quader fand. Ich war wie aufgestachelt. Schon während des Ganges durch den diesmal besonders langen Trümmerkorridor, kam mir der Gedanke, wie naheliegend es wäre, Abbé de Villers unter den Arc de Triomphe zu beschwören. Eine wunderbare Kompensation, wie ich glaubte, aber es hätte mich stutzig machen müssen, dass kaum Spatzen flogen, ich kein Verlangen hatte, den Bogen zu durchqueren, mir stattdessen aber ein Gefühl der Zufriedenheit erwuchs, als ein Quader einen Sperling unter sich zerquetschte.
Schlicht gesprochen bedeutete diese Allegorie nichts anderes als die Versuchung, das weiche Herz gegen ein hartes zu tauschen. Rückwirkend sage ich dazu: Die Wiederbegegnung mit dem Abbé brachte soviel Gewalt in meine Seele, dass ich gar nicht anders konnte, als selbst gewalttätig zu werden. Das alte Gesetz sollte sich auch an mir erfüllen: Opfer von Mißhandlungen begehen selbst Mißhandlungen. Die Dämonen forderten Blut.
Ganz wörtlich. Und das auf eine wirklich widerliche Art.
11.
Als ich mich auf den Weg zum Comte machte, zeigte sich seit Tagen das erste Mal wieder die Sonne. Ich wertete dies als entsprechend gutes Omen für meinen Plan, Bankier Boissieu um einen Kredit anzugehen, und war in der Stimmung, stundenlang über die Straßen zu schlendern und mir auf den geschäftigen Märkten Menschen auszugucken. Plötzlich blieb ich stehen. Nicht, dass meine Laune eingebrochen war, aber auf einmal vermeinte ich eine Stimme zu hören, die mir sagte: Nicht so schnell, mein Freund. Überlege erst einmal, sei ein bisschen skeptisch. Du bist doch Psychiater, oder? Glaubst du ernsthaft, dein bislang gelebtes psychologisches Schattendasein mit einer Praxis ad acta legen zu können?
Still stand ich da und blickte vom Quai de L´Hôtel de Ville ins dunkle Wasser der Seine. Bunte Boote dümpelten an grauen Leinen. In einem Weidenkorb, der wie zufällig hingeworfen schien, zappelte ein einsamer weißer Fisch. Ich sah ihm zu und lauschte dabei auf das Pferdetrappeln und Kratzen der Reisigbesen. Eine quietschende Droschke näherte sich, ein Hund bellte. Irgendwann begann ich einzelne Stimmen zu unterscheiden, dann verschwammen diese wieder und gingen im Parlando der Straße unter. Kinder lachten und schnieften, Mütter riefen und mahnten.
Mal ehrlich, fragte ich mich, bist du gesund oder seelisch invalid? Solltest du ersteres nicht sein, wäre es ratsam, auf eine eigene Praxis zu verzichten und das Geschäft stabileren Gemütern zu überlassen. Pflege dich, wenn du siech bist und verlange nicht von der Welt, mit dir Geschäfte zu machen. Es gibt nicht umsonst den schönen Spruch: Gewollt hätte ich schon, und gebraucht hätte ich das Geld auch. Aber ob ich auch gekonnt hätte, es zu verdienen – da fängt das Theater an.
Eine eigene Praxis.
Ich erinnerte mich an meine Wanderjahre, an die Spitäler in der Provinz, an die Jahre als Assistent Onkel Jeans, an meine sogenannte Baader-Zeit: Da kamen die Menschen im Sommer mit eitrigen Geschwüren an den Zehen, im Winter dagegen waren sie erfroren und blauschwarz. Einige hatten entzündete Augen und Ohrensausen. Kinder schrien vor Bauchschmerzen, starben an Blinddarmdurchbrüchen, hatten Keuchhusten, Blattern, Masern, Mumps und
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