Der Hypnotiseur - Kepler, L: Hypnotiseur - Hypnotisören
schon ab«, unterbricht Anja ihn, »damit ich endlich in Ruhe arbeiten kann.«
Joona parkt vor dem vegetarischen Restaurant Lao Wai, von dem ihm Disa vorgeschwärmt hat. Er wirft einen Blick durchs Fenster und erfreut sich an der schlichten, asketischen Schönheit der Holzmöbel, dem Verzicht auf Überflüssiges, dem Fehlen von dekorativen Gegenständen im Raum.
Als er bei Simone klingelt, ist Erik schon da. Sie begrüßen sich, und Joona erläutert kurz, was er vorhat.
»Wir werden Benjamins Entführung möglichst genau rekonstruieren. Sie waren als Einzige dabei, Simone.«
Sie nickt verbissen.
»Dann werden Sie sich selbst spielen. Ich bin der Täter und du Erik, du musst Benjamins Rolle übernehmen.
»Okay«, sagt Erik. Joona sieht auf die Uhr.
»Simone, wann war der Einbruch Ihrer Schätzung nach?«
Sie räuspert sich:
»Ich bin mir nicht sicher … die Zeitung war jedenfalls noch nicht gekommen … also muss es vor fünf gewesen sein. Außerdem bin ich aufgestanden und habe ein Glas Wasser getrunken, das war um zwei … danach habe ich eine Weile wachgelegen … also irgendwann zwischen halb drei und fünf.«
»Gut, dann stelle ich die Uhr auf halb vier, dann bekommen wir eine Durchschnittszeit«, sagt Joona. »Ich werde die Tür aufschließen, zu Simone schleichen, simulieren, dass ich ihr eine Spritze gebe, und anschließend zu Benjamin hineingehen – also dir, Erik – und dich aus dem Zimmer zerren. Ich werde dich über den Flurboden und zur Tür hinausschleifen. Du bist schwerer als dein Sohn, das müssen wir bei der Zeitnahme mit einer Minute berücksichtigen. Simone, versuchen Sie bitte, sich so zu bewegen, wie Sie es in jener Nacht getan haben. Legen Sie sich zur gleichen Zeit auf die gleiche Stelle. Ich will wissen, was Sie gesehen haben oder nur erahnen konnten.«
Simone nickt mit blassem Gesicht.
»Danke«, flüstert sie. »Danke, dass Sie das für uns tun.«
Joona sieht sie mit seinen eisgrauen Augen an.
»Wir werden Benjamin finden.«
Simone streicht sich flüchtig mit der Hand über die Stirn.
»Ich gehe ins Schlafzimmer«, sagt sie heiser und sieht Joona mit den Schlüsseln in der Hand die Wohnung verlassen.
Als Joona hereinkommt, liegt sie unter der Decke. Er bewegt sich schnell auf sie zu, rennt nicht, handelt jedoch zielstrebig. Es kitzelt, als er ihren Arm anhebt und so tut, als würde er ihr eine Spritze geben. Sie begegnet Joonas Blick, als er über sie gebeugt steht, und erinnert sich, dass sie von einem deutlich spürbaren Stich in den Arm geweckt wurde und jemanden aus dem Zimmer huschen sah. Die bloße Erinnerung lässt ihren Arm an der Einstichstelle kribbeln. Als Joonas Rücken verschwindet, setzt sie sich auf, reibt sich die Armbeuge und steht langsam auf. Sie tritt in den Flur hinaus, lugt in Benjamins Zimmer hinein und sieht Joona, der sich über das Bett beugt. Plötzlich sagt sie die Worte, als hallten sie durch ihre Erinnerung:
»Was tut ihr da? Darf ich reinkommen?«
Zögernd geht sie bis zum Büfett. Ihr Körper erinnert sich, dass dort alle Kraft aus ihr wich und sie fiel. Ihre Beine geben nach, und gleichzeitig fällt ihr wieder ein, wie sie immer tiefer in eine schwarze Taubheit sank, die von immer kürzeren lichten Momenten unterbrochen wurde. Sie liegt halb an die Wand gelehnt und sieht Joona Erik an den Füßen vorbeischleifen. Die Erinnerung spult das Unfassbare vor ihr ab:
Benjamin, der sich am Türrahmen festzuhalten versuchte, sein Kopf, der gegen die Türschwelle stieß und seine immer schwächeren Handbewegungen, mit denen er nach ihr greifen wollte.
Als Erik an Simone vorbeigeschleift wird und ihre Blicke sich kurz begegnen, scheint sich für einen flüchtigen Moment eine Gestalt aus Nebel oder Dampf im Flur einzufinden. Sie sieht Joonas Gesicht von unten. Es wird ausgetauscht gegen ein schemenhaftes Bild des Täters, das in ihrem Bewusstsein aufblitzt. Ein Gesicht im Schatten und eine gelbe Hand um Benjamins Fußknöchel. Simones Herz pocht heftig, als sie hört, wie Joona Erik ins Treppenhaus schleift und die Tür hinter sich schließt.
In der Wohnung herrscht eine gespenstische Atmosphäre. Simone kann das Gefühl nicht abschütteln, erneut betäubt worden zu sein. Als sie aufsteht und darauf wartet, dass die beiden Männer zurückkommen, sind ihre Glieder taub und schwer.
Joona zieht Erik über den zerkratzten Marmorboden im Treppenhaus und lässt gleichzeitig den Blick umherschweifen, prüft Winkel und Höhen,
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