Der Hypnotiseur - Kepler, L: Hypnotiseur - Hypnotisören
dann weiter:
»Wo waren Sie am Montag, den siebten Dezember?«
Sie schüttelt den Kopf.
»Gestern«, präzisiert er.
»Ich war hier«, sagt sie schwach.
»Im Haus?«
Sie begegnet seinem Blick.
»Ja.«
»Sie sind den ganzen Tag nicht aus dem Haus gegangen?«
»Nein.«
»Sie haben nur hier gesessen?«
Sie deutet auf das Bett und die Lehrbücher in Staatswissenschaft, die darauf liegen.
»Sie studieren?«
»Ja.«
»Dann haben Sie gestern also das Haus nicht verlassen?«
»Nein.«
»Gibt es jemanden, der das bestätigen kann?«
»Was?«
»War jemand bei Ihnen?«, fragt Joona.
»Nein.«
»Haben Sie eine Ahnung, wer das Ihrer Familie angetan haben könnte?«
Sie schüttelt den Kopf.
»Hat jemand Ihre Familie bedroht?«
Sie scheint ihn nicht zu hören.
»Evelyn?«
»Was? Was haben Sie gesagt?«
Ihre Finger sind zwischen den Beinen fest eingeklemmt.
»Gibt es jemanden, der Ihrer Familie gedroht hat, haben Sie irgendwelche Gegner, Feinde?«
»Nein.«
»Wussten Sie, dass Ihr Vater große Schulden hatte?«
Sie schüttelt den Kopf.
»Die hatte er jedenfalls«, sagt Joona. »Ihr Vater hat sich Geld von Kriminellen geliehen.«
»Aha.«
»Könnte einer von diesen Leuten das getan …«
»Nein«, unterbricht sie ihn.
»Warum nicht?«
»Sie verstehen gar nichts«, sagt sie mit erhobener Stimme.
»Was verstehen wir nicht?«
»Sie verstehen gar nichts.«
»Dann sagen Sie uns, was …«
»Das geht nicht«, schreit sie.
Sie ist so aufgewühlt, dass sie abrupt in Tränen ausbricht. Kristina Andersson geht zu ihr und umarmt sie, und nach einer Weile beruhigt Evelyn sich. Sie sitzt vollkommen regungslos in den Armen der Polizistin, während einzelne Schluchzer durch ihren Körper laufen.
»Kleines«, flüstert Kristina Andersson tröstend.
Sie drückt die junge Frau an sich und streicht ihr übers Haar. Plötzlich schreit Kristina auf und stößt Evelyn von sich und zu Boden.
»Verdammt, sie hat mich gebissen … sie hat mich richtig gebissen.«
Sie blickt verblüfft auf ihre blutigen Finger hinab. Sie blutet aus einer Wunde am Hals.
Evelyn sitzt auf dem Fußboden und verbirgt ein verwirrtes Lächeln hinter ihrer Hand. Ihre Augen rollen nach hinten, und sie sackt bewusstlos zusammen.
11.
Dienstagabend, der achte Dezember
Benjamin hat sich in seinem Zimmer eingeschlossen. Simone sitzt mit geschlossenen Augen am Küchentisch und hört die Liveübertragung eines klassischen Konzerts aus der Berwaldhalle. Sie versucht, sich ein Leben als alleinstehende Frau vorzustellen. Es würde sich von dem, was ich jetzt führe, kaum unterscheiden, denkt sie ironisch. Ich würde vielleicht öfter in Konzerte, Theater und Galerien gehen, wie alle einsamen Frauen dies tun.
Sie findet eine Flasche Malt Whisky im Schrank und schenkt sich einen Schluck und ein paar Tropfen Wasser ein: hellgelbe Flüssigkeit in einem schweren Glas. Während die warmen Töne einer Cellosuite von Bach die Küche füllen, wird die Wohnungstür geöffnet. Es ist eine sanfte und traurige Melodie. Erik steht im Türrahmen und sieht sie an, sein Gesicht ist vor Müdigkeit ganz grau.
»Das sieht gut aus«, meint er.
»Man nennt es Whisky«, sagt sie und gibt ihm das Glas.
Sie schenkt sich selbst ein neues ein, und dann stehen sie sich gegenüber und prosten sich ernst zu.
»Hattest du einen anstrengenden Tag?«, fragt sie leise.
»Ziemlich«, antwortet er und lächelt blass.
Auf einmal sieht er unglaublich abgekämpft aus. Es liegt ein Schleier auf seinen Gesichtszügen wie eine dünne Schicht Staub.
»Was hörst du?«, fragt er.
»Soll ich es ausschalten?«
»Nicht meinetwegen – es ist schön.«
Erik leert sein Glas, reicht es ihr, und sie schenkt ihm nach.
»Benjamin ist also nicht tätowiert worden«, sagt er.
»Du hast die dramatischen Ereignisse auf deiner Mailbox verfolgt.«
»Eben erst, auf dem Heimweg, vorher bin ich nicht dazu gekommen und …«
»Nein«, unterbricht sie ihn und denkt an diese Frau, die sich bei ihrem Anruf gemeldet hat.
»Es war gut, dass du hingefahren bist und ihn geholt hast«, sagt Erik.
Sie nickt und überlegt, dass alle Gefühle ineinandergeschoben sind, keine Beziehung frei und abgegrenzt für sich steht, alles von allem durchdrungen wird.
Sie trinken noch einen Schluck, und plötzlich merkt sie, dass Erik sie anlächelt. Von seinem Lächeln mit den schiefen Zähnen hat sie immer weiche Knie bekommen. Sie denkt daran, wie gerne sie jetzt mit ihm
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