Der Idiot
mit ihren lächerlichen ›Bäumen von Pawlowsk‹? Mir
die letzten Lebensstunden versüßen? Können sie denn nicht begreifen,
daß sie mich um so unglücklicher machen, je mehr ich meine Lage
vergesse, je mehr ich mich diesem letzten Trugbild von Leben und Liebe
hingebe, mit dem sie mir meine Meyersche Mauer und alles, was ich so
offenherzig und schlicht darauf geschrieben habe, verdecken wollen? Was
helfen mir eure freie Natur, euer Pawlowsker Park, eure Sonnenauf- und
-untergänge, euer blauer Himmel und eure zufriedenen Gesichter, wenn
dieser ganze Festschmaus, der kein Ende nimmt, damit angefangen hat,
daß ich allein als überflüssiger Gast fortgewiesen werde? Was soll ich
inmitten all dieser Schönheit, wenn ich in jeder Minute, in jeder
Sekunde denken muß, daß sogar diese winzige Fliege, die jetzt im
Sonnenstrahl um mich herumsummt, an diesem ganzen Festschmaus und
Festchor teilnimmt, ihren Platz in ihm kennt und liebt und glücklich
ist, während ich allein ein Ausgestoßener bin und nur infolge meiner
Schwachmütigkeit das bisher nicht habe begreifen wollen? Oh, ich weiß
ja, wie gern der Fürst und all diese Leute mich dahin bringen möchten,
daß auch ich statt all dieser ›grimmigen, boshaften‹ Reden sittsam zum
Triumph der Moral in Millevoyes berühmte klassische Strophe einstimmte:
O, puissent voir votre beauté sacrée
Tant d'amis, sourds à mes adieux!
Qu'ils meurent pleins de jours, que leur mort soit pleurée,
Qu'un ami leur ferme les yeux!
Aber glaubt es nur, glaubt es nur, ihr harmlosen Leute, daß auch in
dieser wohlgesitteten Strophe, in diesem akademischen Segen, den der
Dichter der Welt in seinen französischen Versen erteilt, so viel
heimliche Galle, so viel unversöhnlicher, sich selbst an den Reimen
erquickender Groll steckt, daß vielleicht sogar der Dichter selbst sich
hat täuschen lassen und diesen Groll für Tränen der Rührung gehalten
hat und in diesem Glauben gestorben ist; Friede seiner Asche! Wisset,
daß es in dem Bewußtsein der eigenen Richtigkeit und Schwäche eine
Grenze der Schande gibt, über die der Mensch nicht mehr hinausgehen
kann, und bei der er anfängt, in seiner Schande selbst einen großen
Genuß zu empfinden ... Nun, gewiß, die Sanftmut ist eine gewaltige
Kraft in diesem Sinne; das gebe ich zu, wiewohl nicht in dem Sinne, in
welchem die Religion die Sanftmut für eine Kraft hält.
Die Religion! Daß es ein ewiges Leben gibt, gebe ich zu und habe ich
vielleicht immer zugegeben. Nehmen wir an, mein Bewußtsein sei nach dem
Willen einer höheren Macht aufgeflammt; nehmen wir an, dieses mit
Bewußtsein begabte Wesen habe sich in der Welt umgeschaut und gesagt:
›Ich bin!‹, und nehmen wir an, diese höhere Macht schreibe ihm
plötzlich vor, wieder zu verschwinden, weil das zu irgendeinem Zweck,
der ihm nicht einmal erklärt wird, notwendig sei – dies alles
zugegeben, so erhebt sich doch immer wieder die stete Frage: wozu ist
unter solchen Umständen von meiner Seite Sanftmut erforderlich? Kann
ich denn nicht einfach aufgefressen werden, ohne daß man von mir ein
Loblied auf dasjenige verlangt, was mich auffrißt? Trete ich wirklich
jemandem damit zu nahe, daß ich nicht noch zwei Wochen warten will? Ich
kann das nicht glauben; weit richtiger dürfte die Annahme sein, daß
mein nichtiges Leben, das Leben eines Atoms, einfach erforderlich war,
um irgendwelche allgemeine Harmonie im Weltall zu vervollständigen, um
irgendein Plus oder Minus herbeizuführen, irgendeinen Kontrast
herzustellen und so weiter und so weiter, gerade so wie täglich der
Opfertod vieler Millionen von Wesen erfordert wird, ohne den die übrige
Welt nicht existieren kann (wiewohl dazu bemerkt werden muß, daß diese
Einrichtung an und für sich nicht sehr edelmütig ist). Aber nehmen wir
dies an! Ich will zugeben, daß es unmöglich war, die Welt auf andere
Weise einzurichten, das heißt ohne ein fortwährendes gegenseitiges
Auffressen; ich will sogar zugeben, daß ich von dieser Einrichtung
nichts verstehe; aber dafür weiß ich etwas anderes mit Bestimmtheit:
wenn mir auch das Bewußtsein meines Ichs verliehen ist, so ist es doch
nicht meine Sache, daß die Welt fehlerhaft eingerichtet ist und nicht
anders bestehen kann. Wer wird unter solchen Umständen über mich zu
Gericht sitzen und weswegen? Man mag sagen, was man will, das alles
erscheint unmöglich und ungerecht.
Und doch habe ich niemals, sogar trotz meines lebhaften Wunsches
nicht, mir vorstellen können, daß es
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