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Der Idiot

Der Idiot

Titel: Der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor Michailowitsch Dostojewski
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kein zukünftiges Leben und keine
Vorsehung gebe. Am wahrscheinlichsten ist wohl, daß dies alles
existiert, daß wir aber vom zukünftigen Leben und seinen Gesetzen
nichts begreifen. Aber wenn es so schwer, ja ganz unmöglich ist, dies
zu begreifen, kann ich denn dann dafür verantwortlich gemacht werden,
daß ich nicht imstande gewesen bin, das Unfaßbare zu ergründen?
Allerdings sagen nun die Menschen, und natürlich der Fürst mit ihnen,
hier sei eben Gehorsam vonnöten; man müsse gehorchen, ohne zu
räsonieren, einzig und allein infolge guter Gesittung, und ich würde
mit Sicherheit in jener Welt für meine Sanftmut belohnt werden. Wir
erniedrigen die Vorsehung zu sehr, wenn wir aus Ärger darüber, daß wir
sie nicht begreifen können, ihr unsere eigenen Anschauungen
zuschreiben. Aber ich wiederhole noch einmal: wenn es unmöglich ist,
sie zu begreifen, dann kann der Mensch auch schwer für das
verantwortlich gemacht werden, was zu begreifen ihm nicht vergönnt ist.
Aber wenn dem so ist, wie kann ich dann dafür verurteilt werden, daß
ich den wahren Willen und die wahren Gesetze der Vorsehung nicht habe
begreifen können? Nein, das beste ist schon, die Religion aus dem Spiel
zu lassen.
    Nun genug! Wenn ich bis zu diesen Zeilen gelangt sein werde, wird
gewiß die Sonne schon aufgehen und ›am Himmel ertönen‹, und eine
gewaltige, unberechenbare Kraft wird sich über die ganze von ihr
beschienene Erde ergießen. Sei es denn! Ich werde sterben, indem ich
auf die Quelle der Kraft und des Lebens gerade hinblicke, und dieses
Leben verschmähen! Hätte es in meiner Macht gestanden, nicht geboren zu
werden, so würde ich ein an so höhnische Bedingungen geknüpftes Dasein
gewiß nicht angenommen haben. Aber es steht noch in meiner Macht zu
sterben, obgleich ich nur einen kargen, zählbaren Rest hingebe. Das ist
keine große Machtäußerung und auch keine große Auflehnung gegen das
Schicksal.
    Eine letzte Erklärung: »ich sterbe ganz und gar nicht deswegen, weil
ich nicht imstande wäre, diese drei Wochen noch zu ertragen; oh, meine
Kraft würde schon dazu ausreichen, und wenn ich wollte, würde ich schon
an dem bloßen Bewußtsein des mir angetanen Unrechts einen ausreichenden
Trost haben; aber ich bin kein französischer Dichter und mag solchen
Trost nicht. Endlich noch etwas, was mich vielleicht lockt: die Natur
hat dadurch, daß sie mir bis zu meiner Hinrichtung nur drei Wochen
Frist gegeben hat, meine Tätigkeit dermaßen eingeschränkt, daß
vielleicht der Selbstmord die einzige Handlung ist, die nach eigenem
Willen anzufangen und zu beenden ich noch Zeit habe. Nun, vielleicht
will ich die letzte Möglichkeit, etwas zu tun, benutzen? Auch ein Protest ist manchmal keine kleine Tat ...«
    Die »Erklärung« war zu Ende. Ippolit hielt endlich inne ...
    Es gibt in extremen Fällen einen höchsten Grad zynischer
Offenherzigkeit, bei welchem ein nervöser Mensch, der auf das äußerste
gereizt und ganz außer sich geraten ist, nichts mehr fürchtet und zu
jedem Skandal bereit ist, ja sogar mit Freuden einen solchen
hervorruft; er fällt über andere Menschen her, indem er dabei die
unklare, aber feste Absicht hat, sich im nächsten Augenblick unbedingt
von einem Kirchturm herabzustürzen und dadurch mit einem Schlag alle
etwa entstandenen Mißverständnisse zu beseitigen. Ein Merkmal dieses
Zustandes ist gewöhnlich auch die herannahende Erschöpfung der
physischen Kräfte. Die außerordentliche, fast unnatürliche Anspannung,
infolge deren Ippolit sich bis dahin aufrechterhalten hatte, war nun
bis auf diesen höchsten Grad gelangt. An sich erschien dieser
achtzehnjährige, von der Krankheit erschöpfte junge Mensch schwach wie
ein vom Baum abgerissenes, zitterndes Blättchen; aber sobald er Zeit
fand, einen Blick über seine Zuhörer gleiten zu lassen (was er jetzt
zum erstenmal seit einer ganzen Stunde tat), prägte sich sofort der
hochmütigste, verächtlichste, beleidigendste Widerwille in seinem Blick
und in seinem Lächeln aus. Er beeilte sich mit dieser Herausforderung.
Aber auch die Zuhörer befanden sich in voller Entrüstung. Alle erhoben
sich geräuschvoll und ärgerlich vom Tisch. Die Müdigkeit, der Wein, die
Anspannung steigerten noch den Wirrwarr und, wenn man sich so
ausdrücken kann, die Unreinlichkeit der Empfindungen.
    Plötzlich sprang Ippolit schnell vom Stuhl auf, als ob ihn jemand in die Höhe gerissen hätte.
    »Die Sonne ist aufgegangen!« rief er, indem er nach den

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