Der Idiot
nachdem sie
alles gehört hatte. »Wir können hier nur eine Stunde bleiben, bis acht
Uhr, weil ich um acht Uhr unter allen Umständen zu Hause sein muß,
damit die andern nicht erfahren, daß ich hier gesessen habe. Ich bin
aber in einer ernsten Angelegenheit hergekommen und habe Ihnen vieles
mitzuteilen. Nur haben Sie mich jetzt ganz aus dem Konzept gebracht.
Was Ippolit betrifft, so meine ich, es war das Richtige, daß seine
Pistole versagte; das paßt zu seiner Persönlichkeit am besten. Aber
sind Sie überzeugt, daß er sich tatsächlich erschießen wollte und es
nicht bloß Humbug war?«
»Es war bestimmt kein Humbug.«
»Das ist das Wahrscheinlichste. Er hat also auch geschrieben, Sie
sollten mir seine Beichte bringen? Warum haben Sie sie mir nicht
gebracht?«
»Aber er ist ja nicht gestorben. Ich werde ihn fragen, ob ich es unter diesen Umständen tun soll.«
»Bringen Sie sie mir auf jeden Fall; Sie brauchen gar nicht erst zu
fragen. Es wird ihm vielleicht sehr angenehm sein, weil er vielleicht
mit der Absicht auf sich geschossen hat, daß ich dann seine Beichte
lesen sollte. Bitte, lachen Sie nicht über meine Worte, Ljow
Nikolajewitsch; es ist wohl möglich, daß es sich so verhält.«
»Ich lache nicht; denn ich bin selbst davon überzeugt, daß dies teilweise sehr wohl möglich ist.«
»Sie sind davon überzeugt? Sie glauben das wirklich auch?« fragte
Aglaja höchst erstaunt. Sie stellte ihre Fragen schnell und redete
hastig, geriet aber manchmal in Verwirrung und brachte die Sätze oft
nicht zu Ende. Alle Augenblicke kündigte sie ihm eilig etwas
Bevorstehendes an; überhaupt befand sie sich in außerordentlicher
Unruhe, und obwohl sie eine sehr tapfere, herausfordernde Miene annahm,
war sie vielleicht doch etwas feige. Sie trug ein ganz einfaches
Alltagskleid, das ihr sehr gut stand. Sie zuckte oft zusammen, errötete
und saß nur auf dem Rand der Bank. Die Zustimmung des Fürsten zu ihrer
Ansicht, daß Ippolit sich erschossen habe, damit sie seine Beichte
läse, versetzte sie in großes Erstaunen.
»Gewiß wünschte er«, erklärte der Fürst, »daß außer Ihnen auch wir alle ihn loben möchten ...«
»Wieso loben?«
»Das heißt, es ist ... Wie soll ich Ihnen das deutlich machen? Es
ist sehr schwer zu sagen. Aber er wünschte gewiß, alle möchten ihn
umringen und zu ihm sagen, daß sie ihn sehr liebten und achteten, und
alle möchten ihn dringend bitten, am Leben zu bleiben. Gut möglich, daß
er dabei Sie mehr als alle andern im Auge hatte, weil er sich Ihrer in
einem solchen Augenblick erinnerte ... wiewohl er vielleicht selbst
nicht wußte, daß er Sie im Auge hatte.«
»Das ist mir ganz unverständlich: er hatte jemand im Auge und wußte
nicht, daß er ihn im Auge hatte. Übrigens habe ich für seine
Handlungsweise wohl Verständnis: wissen Sie, daß ich selbst gegen
dreißigmal, von der Zeit an, als ich noch ein dreizehnjähriges Mädchen
war, daran dachte, mich zu vergiften, und das alles in einem Brief an
meine Eltern niederschrieb und mir sogar überlegte, wie ich im Sarg
liegen würde, und wie alle um mich herumstehen und weinen und sich
anklagen würden, weil sie so hart gegen mich gewesen seien ... Warum
lächeln Sie wieder?« fügte sie mit zusammengezogenen Augenbrauen
schnell hinzu. »Woran denken Sie denn immer im stillen, wenn Sie so
ganz für sich allein sich Ihren Träumereien überlassen? Vielleicht
stellen Sie sich vor, Sie seien Feldmarschall und schlügen Napoleon.«
»Wahrhaftig, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort darauf, daran denke ich,
besonders beim Einschlafen«, antwortete der Fürst lachend. »Nur schlage
ich nicht Napoleon, sondern immer die Österreicher.«
»Ich habe gar keine Lust, mit Ihnen zu scherzen, Ljow
Nikolajewitsch. Mit Ippolit will ich selbst sprechen und bitte Sie, ihm
das mitzuteilen. Aber was Sie betrifft, so mißfällt mir Ihre
Handlungsweise sehr; denn es ist sehr roh, eine Menschenseele in der
Weise zu untersuchen und zu kritisieren, wie Sie es mit Ippolits Seele
machen. Es fehlt Ihnen an Zärtlichkeit; die Wahrheit ist Ihnen alles,
und darüber werden Sie ungerecht.«
Der Fürst dachte nach.
»Mir scheint, daß Sie gegen mich ungerecht sind«, sagte er dann.
»Ich finde nichts Schlechtes daran, daß er so gedacht hat; denn es
neigen ja alle Menschen dazu, so zu denken; zudem hat er vielleicht
überhaupt nicht so gedacht, sondern nur einen Wunsch gehabt ... er
wünschte zum letztenmal mit Menschen zusammen zu sein und ihre Achtung
und
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