Der Idiot
seinen gewiesenen Weg, und alles kannte seinen Weg und
kam singend und ging singend; nur er wußte nichts und verstand nichts,
weder die Menschen noch die Töne; er stand allem fremd gegenüber; er
war ein Ausgestoßener. Er konnte seinen Gedanken damals natürlich nicht
mit diesen Worten aussprechen und ausdrücken; er quälte sich taub und
stumm; aber jetzt schien es ihm, als habe er all dies schon damals
gesagt, all diese selben Worte, und als habe Ippolit das über die
Fliege Gesagte von ihm selbst, aus seinen damaligen Worten und Tränen,
herübergenommen. Er war davon überzeugt, und das Herz begann ihm bei
diesem Gedanken heftig zu klopfen ...
Er schlief auf der Bank ein; aber seine Unruhe setzte sich auch im
Schlaf fort. Unmittelbar vor dem Einschlafen erinnerte er sich an die
Befürchtung, daß Ippolit ein Dutzend Menschen ermorden werde, und mußte
über das Absurde dieser Vorstellung lächeln. Um ihn herum herrschte
eine schöne, reine Stille; nur die Blätter rauschten leise, und davon
schien es ringsumher noch stiller und einsamer zu werden. Er träumte
sehr viel, und es waren lauter unruhige Träume, infolge deren er alle
Augenblicke zusammenschrak. Schließlich träumte er, es käme eine Frau
zu ihm; er kannte sie, kannte sie mit Schmerzen; er konnte einem jeden
ihren Namen nennen, sie einem jeden zeigen; aber seltsam: sie hatte
jetzt ein ganz anderes Gesicht als dasjenige, das er immer gekannt
hatte, und er gab sich mit innerer Qual alle mögliche Mühe, sie nicht
als jene Frau wiederzuerkennen. In diesem Gesicht lag so viel Reue und
Angst, daß es schien, sie sei eine furchtbare Verbrecherin und habe
soeben eine schreckliche Tat begangen. Eine Träne zitterte auf ihrer
blassen Wange; sie winkte ihm mit der Hand und legte den Finger an die
Lippen, wie wenn sie ihn auffordern wollte, ihr leise zu folgen. Das
Herz stand ihm still; um keinen Preis, um keinen Preis wollte er sie
für eine Verbrecherin halten; aber er fühlte, daß sogleich etwas
Schreckliches vorgehen werde, durch das sein ganzes Leben werde
beeinflußt werden. Sie schien ihm etwas zeigen zu wollen, ganz in der
Nähe, im Park. Er erhob sich, um ihr nachzugehen, und auf einmal hörte
er, wie neben ihm jemand frisch und fröhlich lachte; eine Hand befand
sich in der seinigen; er erfaßte diese Hand, drückte sie kräftig und
erwachte. Vor ihm stand laut lachend Aglaja.
Fußnoten
1 Lacenaire,
ein berüchtigter Mörder, der 1836 in Paris hingerichtet wurde. Es gibt
»Mémoires, révélations et poésies de Lacenaire«, 1836, 2 Bände (ob
echt?). (A.d.Ü.)
VIII
Sie lachte; aber sie war zugleich unwillig.
»Er schläft! Sie haben geschlafen!« rief sie verwundert und geringschätzig.
»Sie sind es!« murmelte der Fürst, der noch nicht ganz zu sich gekommen war und sie mit Erstaunen erkannte.
»Ach ja! Das Rendezvous ...! Ich habe hier geschlafen.«
»Das habe ich gesehen.«
»Hat mich außer Ihnen niemand geweckt? War außer Ihnen niemand hier? Ich glaubte, es sei ... eine andere Frau hier gewesen.«
»Eine andere Frau sollte hier gewesen sein?«
Endlich hatte er seine Gedanken wieder vollständig gesammelt.
»Es war nur ein Traum«, sagte er nachdenklich. »Sonderbar, daß mir
in einem solchen Augenblick so etwas träumte ... Setzen Sie sich!«
Er faßte sie bei der Hand und veranlaßte sie, sich auf die Bank zu
setzen; er selbst setzte sich neben sie und überließ sich seinen
Gedanken. Aglaja begann das Gespräch nicht, sondern blickte den neben
ihr Sitzenden nur unverwandt an. Er schaute sie ebenfalls an, aber
manchmal so, als ob er sie überhaupt nicht vor sich sähe. Sie errötete.
»Ach ja!« sagte der Fürst zusammenfahrend. »Ippolit hat sich erschossen!«
»Wann? In Ihrer Wohnung?« fragte sie, aber ohne großes Erstaunen.
»Gestern abend lebte er ja doch wohl noch? Wie konnten Sie denn nach
einem solchen Vorfall hier schlafen?« rief sie, plötzlich lebhaft
werdend.
»Aber er ist ja nicht tot; die Pistole versagte.«
Auf Aglajas dringendes Verlangen mußte der Fürst sogleich und in
aller Ausführlichkeit alle Ereignisse der vergangenen Nacht erzählen.
Sie trieb ihn während der Erzählung alle Augenblicke zur Eile,
unterbrach ihn aber selbst fortwährend mit Fragen, und zwar betrafen
diese fast immer nebensächliche Dinge. Unter anderm hörte sie mit
großem Interesse an, was Jewgeni Pawlowitsch gesagt hatte, und stellte
einige Male sogar Fragen darüber.
»Nun aber genug! Wir müssen uns beeilen«, schloß sie,
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