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Der Idiot

Der Idiot

Titel: Der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor Michailowitsch Dostojewski
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und wahrheitsliebendsten Menschen; Sie sind
ehrlicher und wahrheitsliebender als alle anderen, und wenn man von
Ihnen sagt, daß Ihr Verstand ... das heißt, daß Ihr Verstand mitunter
nicht ganz gesund ist, so ist das ungerecht; das ist meine entschiedene
Überzeugung, die ich auch verfochten habe; denn wenn Ihr Verstand auch
wirklich nicht ganz gesund sein sollte (Sie werden mir das ja gewiß
nicht übelnehmen; ich rede von einem höheren Gesichtspunkt aus), so ist
dafür Ihr Hauptverstand besser als bei ihnen allen, sogar so gut, wie
sie es sich gar nicht träumen lassen. Denn es gibt zwei Arten von
Verstand, einen Hauptverstand und einen Nebenverstand. Nicht wahr? So
ist es doch?«
    »Vielleicht ist es so«, sagte der Fürst kaum vernehmbar; das Herz zitterte und klopfte ihm gewaltig.
    »Ich wußte, daß Sie es verstehen würden«, fuhr sie mit wichtiger
Miene fort: »Fürst Schtsch. und Jewgeni Pawlowitsch verstehen von
diesen beiden Arten von Verstand nichts und Alexandra ebensowenig; aber
denken Sie sich: Mama verstand es!«
    »Sie haben sehr viel Ähnlichkeit mit Lisaweta Prokofjewna.«
    »Wieso? Wirklich?« fragte Aglaja erstaunt.
    »Wahrhaft, das ist meine Ansicht.«
    »Ich danke Ihnen«, sagte sie nach kurzem Nachdenken. »Ich freue mich
sehr, daß ich mit Mama Ähnlichkeit habe. Sie schätzen sie also wohl
sehr hoch?« fügte sie hinzu, ohne die Naivität der Frage gewahr zu
werden.
    »Sehr hoch, sehr hoch, und ich freue mich, daß Sie das so ohne weiteres herausgefühlt haben.«
    »Ich freue mich ebenfalls; denn ich habe bemerkt, daß man sich
manchmal ... über sie lustig macht. Aber nun hören Sie die Hauptsache:
ich habe es lange überlegt und schließlich Sie ausgewählt. Ich will
nicht, daß man sich zu Hause über mich lustig macht; ich will nicht,
daß man mich für eine kleine Närrin hält; ich will nicht, daß man mich
aufzieht ... Ich habe das alles durchschaut und habe Jewgeni
Pawlowitsch mit aller Entschiedenheit abgewiesen, weil ich nicht will,
daß man mich ununterbrochen unter die Haube zu bringen sucht! Ich will
... ich will ... nun, ich will von zu Hause weglaufen, und ich habe Sie
dazu ausgewählt, mir zu helfen.«
    »Von zu Hause weglaufen!?« rief der Fürst.
    »Ja, ja, ja, von zu Hause weglaufen!« rief sie plötzlich, in
heftigem Zorn aufflammend. »Ich will nicht, ich will nicht, daß sie
mich dort fortwährend zwingen zu erröten. Ich will nicht vor ihnen
erröten, auch nicht vor dem Fürsten Schtsch., auch nicht vor Jewgeni
Pawlowitsch und vor keinem Menschen, und darum habe ich Sie ausgewählt.
Mit Ihnen will ich alles, alles besprechen, sobald ich nur Lust habe,
sogar das Wichtigste; und Sie dürfen mir Ihrerseits auch nichts
verbergen. Ich will wenigstens mit einem Menschen über alles so reden können wie mit mir
selbst. Die Meinigen haben auf einmal angefangen so zu reden, als ob
ich auf Sie wartete und Sie liebte. Das ging schon so vor Ihrer
Ankunft, und ich hatte ihnen Ihren Brief doch gar nicht gezeigt; aber
jetzt reden sie nun schon alle davon. Ich will kühn sein und mich vor
nichts fürchten. Ich will nicht auf ihre Bälle gehen; ich will Nutzen
bringen. Ich habe schon längst davongehen wollen. Ich habe zwanzig
Jahre lang bei ihnen wie in einem Käfig gesessen, und immer wollen sie
mich unter die Haube bringen. Schon als ich vierzehn Jahre alt war,
dachte ich daran davonzulaufen, obwohl ich damals noch dumm war. Jetzt
aber habe ich mir schon alles gut überlegt und habe auf Sie gewartet,
um Sie gründlich über das Ausland zu befragen. Ich habe noch nie einen
gotischen Dom gesehen; ich will in Rom sein; ich will alle
wissenschaftlichen Sammlungen ansehen; ich will in Paris studieren; ich
habe mich das ganze letzte Jahr über vorbereitet und studiert und sehr
viele Bücher gelesen; ich habe auch alle möglichen verbotenen Bücher
gelesen. Alexandra und Adelaida lesen allerlei Bücher; sie dürfen das.
Aber mir werden nicht alle in die Hände gegeben; ich stehe unter
Aufsicht. Ich will mich mit meinen Schwestern nicht herumstreiten; aber
meiner Mutter und meinem Vater habe ich schon längst erklärt, daß ich
meine soziale Stellung vollständig verändern will. Ich beabsichtige
erzieherisch tätig zu sein und habe dabei auf Sie gerechnet, weil Sie
gesagt haben, Sie hätten Kinder gern. Können wir zusammen eine
erzieherische Tätigkeit ausüben, wenn nicht sogleich, so doch in
zukünftiger Zeit? Wir werden vereint Nutzen stiften; ich will kein
Generalstöchterchen sein

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