Der Idiot
Kritik daran zu knüpfen. Darauf ist sie mit
Rogoschin davongelaufen; dann haben Sie mit ihr in irgendeinem Dorf
oder in irgendeiner Stadt zusammen gelebt, und sie ist von Ihnen
weggegangen und hat sich zu irgendeinem andern begeben.« (Aglaja
errötete stark.) »Dann ist sie wieder zu Rogoschin zurückgekehrt, der
sie wie ... wie ein Wahnsinniger liebte. Darauf sind Sie, der Sie
ebenfalls ein sehr verständiger Mensch sind, ihr jetzt schleunigst
hierher nachgereist, sowie Sie erfahren hatten, daß sie nach Petersburg
zurückgekehrt war. Gestern abend haben Sie sich zu ihrem Verteidiger
aufgeworfen, und jetzt eben haben Sie von ihr geträumt ... Sie sehen,
daß ich alles weiß; Sie sind ja doch um ihretwillen hierher gereist,
nicht wahr, um ihretwillen?«
»Ja, um ihretwillen«, antwortete der Fürst leise; er ließ traurig
und nachdenklich den Kopf sinken und ahnte nicht, mit was für einem
funkelnden Blick Aglaja ihn betrachtete. »Um ihretwillen, nur um zu
erfahren ... Ich glaube nicht an ihr Glück mit Rogoschin, obgleich ...
kurz, ich weiß nicht, was ich hier für sie tun, wie ich ihr helfen
könnte; aber ich bin trotzdem hergekommen.«
Er zuckte zusammen und sah Aglaja an; diese hörte ihm voll Haß zu.
»Wenn Sie hergereist sind, ohne zu wissen, wozu, so lieben Sie sie sehr«, sagte sie schließlich.
»Nein«, versetzte der Fürst, »nein, ich liebe sie nicht. Oh, wenn
Sie wüßten, mit welchem Entsetzen ich an jene Zeit zurückdenke, die ich
mit ihr verlebte!«
Ein Schauder überlief bei diesen Worten seinen Körper.
»Erzählen Sie mir alles!« sagte Aglaja.
»Es ist nichts darunter, was Sie nicht anhören könnten. Warum ich
den Wunsch hegte, gerade Ihnen all dies zu erzählen und einzig und
allein Ihnen, das weiß ich nicht; vielleicht weil ich Sie tatsächlich
sehr liebte. Diese unglückliche Frau ist fest überzeugt, daß sie das am
tiefsten gesunkene, lasterhafteste Wesen der ganzen Welt ist. Oh, reden
Sie nicht Übles von ihr, werfen Sie keinen Stein auf sie! Sie hat sich
schon selbst mit dem Bewußtsein ihrer unverdienten Schande nur zu sehr
gequält! Und was trifft sie denn für eine Schuld, o mein Gott? Oh, alle
Augenblicke ruft sie ingrimmig aus, sie bekenne sich nicht schuldig;
sie sei das Opfer andrer Leute, das Opfer eines Wüstlings und
Bösewichts; aber obgleich sie so redet, ist sie doch die erste, es
nicht zu glauben, und ist vielmehr in tiefster Seele davon überzeugt,
daß sie selbst daran schuld ist. Sobald ich versuchte, diese ihre
düstere Auffassung zu bekämpfen, stieg ihre Seelenpein dermaßen, daß
mein Herz, solange ich an diese schreckliche Zeit zurückdenken werde,
nie wieder recht fröhlich sein wird. Es ist mir, als hätte ich einen
Stich ins Herz bekommen, der nicht aufhört zu bluten. Sie lief von mir
weg; wissen Sie, warum? In Wirklichkeit nur, um mir zu beweisen, daß
sie ein gemeines Weib sei. Aber das Schrecklichste dabei ist dies: sie
wußte vielleicht selbst nicht, daß sie nichts weiter wollte als mir das
beweisen, sondern lief weg, weil sie sich innerlich getrieben fühlte,
eine schändliche Handlung zu begehen, um sich dann selbst sagen zu
können: ›Siehst du, du hast eine neue Schandtat begangen; also bist du
ein gemeines Geschöpf!‹ Oh, vielleicht verstehen Sie das nicht, Aglaja!
Wissen Sie wohl, daß in diesem steten Bewußtsein der Schande für sie
vielleicht ein schrecklicher, unnatürlicher Genuß liegt, eine Art von
Rache, die sie an jemand nimmt? Mitunter brachte ich sie dahin, daß sie
wieder Licht um sich zu sehen glaubte; aber sofort regte sie sich dann
wieder von neuem auf, und das ging so weit, daß sie mich voll
Bitterkeit beschuldigte, ich dächte hoch über ihr zu stehen (obgleich
mir das nie in den Sinn gekommen war), und mir schließlich, als ich ihr
die Ehe anbot, geradezu erklärte, sie verlange von niemand ein
hochmütiges Mitleid oder irgendwelche Hilfe oder ein ›zu sich
Hinaufheben‹. Sie haben sie gestern gesehen; glauben Sie wirklich, daß
sie sich in dieser Gesellschaft glücklich fühlt, daß sie in diesen
Kreis hineinpaßt? Sie wissen nicht, wie hochgebildet sie ist, und was
sie alles begreifen kann! Sie hat mich manchmal geradezu in Erstaunen
versetzt!«
»Haben Sie ihr dort auch solche ... Predigten gehalten?«
»O nein«, fuhr der Fürst nachdenklich fort, ohne den Ton der Frage
zu beachten; »ich habe fast immer geschwiegen. Ich wollte oft reden;
aber ich wußte manchmal wirklich nicht, was ich sagen sollte.
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