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Der Idiot

Der Idiot

Titel: Der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor Michailowitsch Dostojewski
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eine Werst entfernt
war. Sie nahmen sich zusammen, um nicht zu weinen; aber viele konnten
sich doch nicht beherrschen und weinten laut, namentlich die Mädchen.
Wir beeilten uns, um nicht zu spät zu kommen; aber unterwegs kam doch
bald dieser, bald jener aus dem Haufen zu mir hingestürzt, umschlang
mich mit seinen kleinen Ärmchen und küßte mich, obgleich er dadurch den
ganzen Trupp aufhielt; aber wiewohl wir es eilig hatten, blieben doch
alle stehen und warteten, bis er in dieser Weise Abschied genommen
hatte. Als ich in den Waggon gestiegen war und sich der Zug in Bewegung
setzte, schrien sie alle ›Hurra!‹ und standen noch lange da, bis der
Zug ganz abgefahren war. Und auch ich blickte nach ihnen zurück ...
Wissen Sie, als ich vorhin hier eintrat und Ihre lieben Gesichter sah
(ich achte jetzt sehr auf die Gesichter) und Ihre ersten Worte hörte,
da wurde mir zum ersten Mal seit jener Zeit leicht ums Herz. Ich sagte
mir vorhin schon, daß ich vielleicht geradezu ein Glückskind bin; ich
weiß ja, daß man nicht erwarten kann, so bald solche Menschen zu
treffen, die man sofort liebgewinnt, und nun habe ich Sie, kaum daß ich
von der Bahn gekommen bin, sogleich getroffen. Ich weiß sehr wohl, daß
sich alle Leute schämen, von ihren Gefühlen zu reden;
aber Ihnen gegenüber, sehen Sie, rede ich von meinen Gefühlen und
schäme mich nicht vor Ihnen. Ich bin menschenscheu und werde vielleicht
lange nicht wieder zu Ihnen kommen. Mißdeuten Sie meine Worte nicht:
ich sage das nicht etwa, weil mir der Verkehr mit Ihnen nicht von hohem
Wert wäre; glauben Sie auch nicht, daß ich mich durch irgend etwas
gekränkt fühlte! Sie fragten mich vorhin nach Ihren Gesichtern und was
ich darin bemerkt hätte; ich will es Ihnen mit dem größten Vergnügen
sagen. Sie, Adelaida Iwanowna, haben ein glückliches Gesicht, das
sympathischste von allen dreien. Ganz abgesehen davon, daß Sie sehr
schön sind, sagt man sich bei Ihrem Anblick: ›Sie hat ein Gesicht wie
eine gute Schwester.‹ Sie treten einfach und heiter an jemand heran,
verstehen es aber auch, das Herz desselben schnell zu erkennen. So
denke ich über Ihr Gesicht. Auch Sie, Alexandra Iwanowna, haben ein
schönes und sehr liebes Gesicht; aber vielleicht haben Sie einen
geheimen Kummer; Ihr Herz ist ohne Zweifel sehr gut, aber Sie sind
nicht heiter. Sie haben einen besonderen Zug im Gesicht, ungefähr wie
die Holbeinsche Madonna in Dresden. Da haben Sie meine Meinung auch
über Ihr Gesicht. Kann ich gut raten? Sie nehmen ja selbst an, daß ich
diese Fähigkeit besitze. Was aber Ihr Gesicht anlangt, Lisaweta
Prokofjewna«, wandte er sich plötzlich zur Generalin, »so habe ich auf
Grund desselben nicht nur die Vermutung, sondern die völlige
Überzeugung, daß Sie ein vollständiges Kind sind, in all und jeder
Hinsicht, in allem Guten und in allem Schlechten, obwohl Sie bereits in
einem solchen Lebensalter stehen. Sie sind doch nicht böse, weil ich
das alles so offen ausspreche? Sie wissen ja, wofür ich die Kinder
halte. Und glauben Sie nicht, daß ich Ihnen das alles über Ihre
Gesichter soeben lediglich aus Naivität so frei heraus gesagt habe; oh
nein, durchaus nicht! Vielleicht hatte auch ich meine besondere Absicht
dabei.«

VII
    Als der Fürst nun schwieg, blickten alle, selbst Aglaja, namentlich
aber Lisaweta Prokofjewna, ihn vergnügt an. »Da habt ihr ihn ja nett
examiniert!« rief sie. »Ja, meine verehrten Damen, ihr dachtet, ihr
würdet ihn wie einen armen Schlucker protegieren, und nun hat er selbst
euch nur zur Not für eine seiner würdige Gesellschaft erklärt und noch
dazu gleich vorher angekündigt, daß er nur selten herkommen werde. Seht
ihr wohl, da sind wir nun, worüber ich mich freue, die Blamierten, und
am allermeisten Iwan Fjodorowitsch. Bravo, Fürst! Wir hatten vorhin die
Weisung erhalten, wir sollten Sie examinieren. Was Sie aber von meinem
Gesicht sagten, das ist durchaus richtig: ich bin ein Kind und weiß
das. Ich habe es schon früher gewußt als Sie, und Sie haben nur meine
eigene Ansicht in knapper Form zum Ausdruck gebracht. Ich meine, daß
Ihr Charakter mit dem meinigen völlig übereinstimmt, und freue mich
sehr darüber; die beiden sind sich ähnlich wie ein Ei dem andern. Nur
sind Sie ein Mann und ich eine Frau, auch bin ich nicht in der Schweiz
gewesen; das ist der ganze Unterschied.«
    »Sachte, sachte, Mama!« rief Aglaja. »Der Fürst sagt ja, daß er bei
all seinen freimütigen Auseinander setzungen eine besondere

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