Der Idiot
spritzte ihr Wasser ins Gesicht; sie schlug die Augen auf und war eine Weile noch völlig verständnislos; aber auf einmal blickte sie um sich, zuckte zusammen, schrie auf und stürzte zum Fürsten hin.
»Mein! Mein!« rief sie. »Ist das stolze Fräulein weg? Hahaha!« lachte sie krampfhaft. »Hahaha! Ich hatte ihn diesem Fräulein abtreten wollen! Aber warum? Wozu? Ich Wahnsinnige ...! Geh weg, Rogoschin! Hahaha!«
Rogoschin blickte die beiden starr an, ohne ein Wort zu sagen; dann nahm er seinen Hut und ging hinaus. Zehn Minuten darauf saß der Fürst neben Nastasja Filippowna, blickte sie unverwandt an und streichelte ihr mit beiden Händen Kopf und Gesicht wie einem kleinen Kind. Er lachte in Erwiderung auf ihr Lachen und war bereit, in Erwiderung auf ihre Tränen zu weinen. Er sprach nicht, sondern hörte geduldig ihr leidenschaftliches, glückseliges, unzusammenhängendes Gestammel an, verstand kaum etwas davon, lächelte aber leise, und sobald es ihm schien, als wolle sie wieder anfangen, sich zu grämen oder zu weinen, Vorwürfe zu erheben oder sich zu beklagen, begann er sogleich wieder, ihr den Kopf zu streicheln und zärtlich die Hände über ihre Wangen zu führen, indem er ihr wie einem Kind tröstend zuredete.
IX
Seit dem Ereignis, das wir im letzten Kapitel erzählt haben, waren zwei Wochen vergangen, und die Situation der handelnden Personen unserer Erzählung hatte sich dermaßen verändert, daß es uns außerordentlich schwer wird, ohne besondere Erläuterungen an die Fortsetzung zu gehen. Und doch fühlen wir, daß wir uns auf eine einfache Darlegung der Tatsachen beschränken müssen, unter möglichster Vermeidung besonderer Erläuterungen, und zwar aus einem sehr einfachen Grund: weil wir selbst in vielen Fällen in Verlegenheit sind, wie wir die Vorgänge erklären sollen. Ein solches Bekenntnis unsererseits muß dem Leser notwendigerweise sonderbar und unverständlich erscheinen; denn wie kann man etwas erzählen, wenn man selbst keine klare Vorstellung davon und keine persönliche Meinung darüber hat? Um uns nicht in eine noch schiefere Lage zu bringen, wollen wir lieber versuchen, das Gesagte an einem Beispiel klarzumachen; vielleicht wird dann der wohlgeneigte Leser verstehen, worin für uns eigentlich die Schwierigkeit liegt; und dieses Verfahren empfiehlt sich um so mehr, da dieses Beispiel keine Abschweifung, sondern im Gegenteil die unmittelbare, gerade Fortsetzung der Erzählung sein wird.
Zwei Wochen waren vergangen, das heißt, der Juli hatte bereits angefangen; und während dieser beiden Wochen war die Geschichte allmählich in allen Straßen, die in der Nachbarschaft der Landhäuser Lebedjews, Ptizyns, Darja Alexejewnas und der Familie Jepantschin lagen, kurz gesagt fast im ganzen Ort und sogar in dessen Umgegend bekannt geworden und hatte dabei eine seltsame, sehr erheiternde, beinah unglaubliche und gleichzeitig beinah zum Greifen anschauliche Fassung erhalten. Fast die ganze Gesellschaft, Einheimische, Sommerfrischler, Residenzler, die zu den Konzerten herauskamen, alle erzählten ein und dieselbe Geschichte, aber mit tausend Variationen: ein Fürst habe in einer ehrenwerten, bekannten Familie einen Skandal herbeigeführt, sich von einer Tochter dieser Familie, die schon seine Braut gewesen sei, losgesagt, sich von einer bekannten Dame der Halbwelt betören lassen, alle seine früheren Beziehungen abgebrochen und beabsichtige nun, ohne sich um etwas zu kümmern, trotz aller Drohungen und trotz der allgemeinen Entrüstung des Publikums, sich nächster Tage mit dem ehrlosen Frauenzimmer hier in Pawlowsk in aller Öffentlichkeit, erhobenen Hauptes und allen gerade ins Gesicht blickend, trauen zu lassen. Dieses Geschichtchen wurde durch skandalöse Züge dermaßen ausgeschmückt, und es wurden so viele bekannte, bedeutende Persönlichkeiten hineingemischt und so viele mannigfache phantastische und rätselhafte Details hinzugetan, und es stützte sich andrerseits auf so unwiderlegliche, feststehende Tatsachen, daß die allgemeine Neugier und die entstehenden Klatschereien gewiß sehr entschuldbar waren. Die feinste, schlauste und gleichzeitig am wahrscheinlichsten klingende Interpretation wurde diesem Geschichtchen durch einige Klatschschwestern männlichen Geschlechts zuteil; diese »ernsten, verständigen« Leute, die eine besondere Klasse bilden, haben immer, in jeder Gesellschaft, nichts Eiligeres zu tun, als den andern dieses und jenes Ereignis zu kommentieren, und
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