Der Idiot
Dutzend Kinder lediglich zu seinem Vergnügen abgeschlachtet hatte (es heißt ja, daß es solche Menschen gibt), seufzte plötzlich mir nichts dir nichts und vielleicht nur einmal im Laufe seiner zwanzigjährigen Strafzeit auf und sagte: »Was mag jetzt der alte General machen? Ob er wohl noch lebt?« Dabei lächelte er vielleicht, das war alles. Aber woher wollen Sie wissen, was für ein Samenkorn in die Seele dieses Verbrechers von dem alten General gestreut war, den derselbe in den zwanzig Jahren nicht vergessen hatte? Woher wissen Sie, Bachmutow, welche Bedeutung diese Hingabe einer Persönlichkeit an die andere für die Schicksale dieser anderen Persönlichkeit haben wird?... Hierbei handelt es sich ja um das ganze Leben mit seiner zahllosen Menge uns unbekannter Verzweigungen. Der beste Schachspieler, auch der scharfsinnigste, kann nur einige Züge vorausberechnen; von einem französischen Spieler, der zehn Züge vorausberechnen konnte, wurde in den Zeitungen wie von einem Weltwunder berichtet. Wie viele Züge aber und wieviel uns Unbekanntes gibt es in einem Menschenleben? Indem Sie Ihr Samenkorn, Ihr »Almosen«, Ihre gute Tat in irgendeiner Form ausstreuen, geben Sie einen Teil Ihrer Persönlichkeit weg und nehmen einen Teil einer andern in sich auf; Sie gehen einer in den andern ein, es bedarf dann nur noch einiger Aufmerksamkeit, und Sie werden sich durch eine schöne Erkenntnis und durch ganz ungeahnte Entdeckungen belohnt sehen. Sie werden schließlich mit Sicherheit Ihre Tätigkeit wie eine Wissenschaft betrachten; diese Wissenschaft wird Ihr ganzes Leben in sich schließen und kann Ihr ganzes Leben ausfüllen. Auf der andern Seite werden all Ihre Gedanken und alle von Ihnen ausgestreuten Samenkörner, wenn Sie sie auch vielleicht längst vergessen haben, Gestalt gewinnen und wachsen; wer sie von Ihnen empfangen hat, wird sie an einen andern weitergeben. Und wie können Sie wissen, welchen Anteil Sie dadurch an der künftigen Gestaltung der Schicksale der Menschheit haben werden? Wenn die theoretische Erkenntnis und ein ganzes dieser Arbeit gewidmetes Leben Sie schließlich dahin bringen, daß Sie imstande sind, ein gewaltiges Samenkorn auszustreuen, der Welt einen gewaltigen Gedanken als Erbe zu hinterlassen, dann ...‹ Und so weiter, ich redete damals noch viel über diesen Gegenstand.
›Und wenn man dabei daran denken muß, daß gerade Ihnen ein solches Leben nicht vergönnt ist!‹ rief Bachmutow im Ton eines erregten Vorwurfs, der sich gegen irgend jemand richtete.
In diesem Augenblick standen wir auf der Brücke, mit den Ellbogen auf das Geländer gestützt, und blickten auf die Newa hinunter.
›Wissen Sie, was mir eben durch den Kopf gegangen ist?‹ sagte ich, indem ich mich noch weiter über das Geländer beugte.
›Doch nicht ins Wasser zu springen?‹ rief Bachmutow beinah entsetzt. Vielleicht glaubte er, diesen Gedanken auf meinem Gesicht gelesen zu haben.
›Nein, vorläufig nur eine Erwägung, nämlich diese: ich habe jetzt noch zwei bis drei Monate zu leben, vielleicht vier; wenn ich aber zum Beispiel nur noch zwei Monate übrig hätte und große Lust bekäme, ein gutes Werk zu tun, das eine Menge Arbeit, Lauferei und Mühe erforderte, in der Art wie die Angelegenheit unseres Arztes, so müßte ich in diesem Fall aus Mangel an noch verfügbarer Zeit von dem betreffenden Werk Abstand nehmen und mir ein kleineres, meinen Mitteln entsprechendes Werk suchen (wenn es mich nun einmal so nach guten Werken gelüstet). Geben Sie zu, daß das ein amüsanter Gedanke ist!‹
Der arme Bachmutow war um mich sehr beunruhigt, er begleitete mich ganz bis zu mir nach Hause und war so zartfühlend, daß er sich gar nicht auf Tröstungsversuche einließ und fast immer schwieg. Als er von mir Abschied nahm, drückte er mir warm die Hand und bat mich um die Erlaubnis, mich besuchen zu dürfen. Ich antwortete ihm, wenn er als ›Tröster‹ zu mir kommen wolle (und auch sein Schweigen würde diesen selben Sinn haben, ich machte ihm das klar), so werde er mich ja dadurch jedesmal erst recht an den Tod erinnern. Er zuckte die Schultern, gab mir aber recht; wir schieden recht höflich voneinander, was ich gar nicht erwartet hatte.
Aber an diesem Abend und in dieser Nacht wurde das erste Samenkorn meiner ›letzten Überzeugung‹ gesät. Eifrig erfaßte ich diesen neuen Gedanken, eifrig durchdachte ich ihn in allen Einzelheiten und Möglichkeiten (ich schlief die ganze Nacht nicht), und je mehr ich mich
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