Der Idiot
und selbst fest geglaubt, in der vornehmen Welt sei alles nur Schein, alles nur abgelebte Form, der eigentliche Kern sei vertrocknet; aber nun sehe ich ja selbst, daß das bei uns nicht zutrifft; anderswo mag das so sein, bei uns ist es nicht so. Sind Sie denn sämtlich jetzt Jesuiten und Betrüger? Ich habe vorhin den Fürsten N. etwas erzählen hören: war das nicht gutherziger, sprudelnder Humor? War das nicht wahre Herzensgüte? Können denn solche Worte von den Lippen eines... geistig gestorbenen Menschen kommen, dessen Herz eingeschrumpft, dessen Talent versiegt ist? Könnten denn gestorbene Menschen mit mir so umgehen, wie Sie mit mir umgegangen sind? Ist das nicht Material... für die Zukunft, ein Material, auf das man seine Hoffnungen setzen darf? Können etwa solche Menschen verständnislos und rückständig sein?«
»Ich bitte Sie noch einmal, sich zu beruhigen, mein Lieber«, sagte der Würdenträger lächelnd. »Wir wollen über all das ein andermal reden, und ich werde mit dem größten Vergnügen...«
Iwan Petrowitsch räusperte sich und drehte sich auf seinem Sessel um; Iwan Fjodorowitsch wurde unruhig; sein hoher Vorgesetzter, der General, unterhielt sich mit der Gemahlin des Würdenträgers, ohne dem Fürsten auch nur die geringste Aufmerksamkeit zu schenken; aber die Gemahlin des Würdenträgers hörte häufig nach diesem hin und blickte zu ihm herüber.
»Nein, wissen Sie, es wird schon das beste sein, wenn ich rede!« fuhr der Fürst in einem neuen fieberhaften Impuls fort, indem er sich besonders zutunlich und geradezu mit einer gewissen Vertraulichkeit an den Alten wandte. »Aglaja Iwanowna hat mir gestern verboten zu reden und mir sogar die Themen genannt, über die ich nicht reden dürfe; sie weiß, daß ich bei Erörterung dieser Themen lächerlich werde! Ich bin siebenundzwanzig Jahre alt, aber ich weiß ja, daß ich noch wie ein Kind bin. Ich habe kein Recht, meine Gedanken auszusprechen, das habe ich schon immer gesagt; ich habe nur in Moskau mit Rogoshin ganz offenherzig gesprochen ... Wir haben zusammen Puschkin gelesen, ihn ganz durchgelesen; er kannte nichts davon, nicht einmal den Namen Puschkin... Ich fürchte immer, durch mein komisches Wesen den Gedanken und die Hauptidee zu kompromittieren. Ich verstehe mich nicht auf Gesten. Ich mache immer Handbewegungen, die den richtigen entgegengesetzt sind, und das ruft Gelächter hervor und schadet der Idee. Ich habe auch kein Gefühl für das rechte Maß, und das ist das wichtigste; das ist sogar das allerwichtigste... Ich weiß, daß ich am besten täte, stillzusitzen und zu schweigen. Wenn ich das durchsetze und schweige, dann mache ich sogar den Eindruck eines ganz vernünftigen Menschen und denke außerdem im stillen über dies und jenes nach. Aber jetzt ist es doch besser, wenn ich rede. Ich habe zu reden angefangen, weil Sie mich so nett ansehen; Sie haben ein so nettes Gesicht! Ich habe gestern Aglaja Iwanowna mein Wort darauf gegeben, heute den ganzen Abend zu schweigen.«
»Vraiment?« fragte der Alte lächelnd.
»Aber in manchen Augenblicken denke ich, daß ich unrecht tue, wenn ich so denke: Offenherzigkeit ist doch wohl ebensoviel wert wie eine schöne Geste, nicht wahr? Nicht wahr?«
»Manchmal.«
»Ich will Ihnen alles erklären, alles, alles, alles! O ja! Sie denken, ich sei ein Utopist, ein Ideologe? O nein, weiß Gott, meine Gedanken sind immer ganz einfach... Sie glauben es nicht? Sie lächeln? Wissen Sie, ich bin manchmal ein gemeiner Mensch, weil ich den Glauben verliere. Vorhin ging ich hierher und dachte: Na, wie werde ich mit ihnen reden? Womit muß ich anfangen, damit sie wenigstens etwas verstehen?' Was hatte ich für Furcht; aber ich fürchtete in der Hauptsache für Sie; es war schrecklich, ganz schrecklich! Aber durfte ich denn Furcht haben? Mußte ich mich nicht schämen, Furcht zu haben? Was tut es denn, daß auf einen Vorgeschrittenen eine solche Menge von Zurückgebliebenen, Schlechten kommt? Und das ist für mich nun gerade ein Grund zur Freude, daß ich jetzt die Überzeugung gewonnen habe, daß es sich gar nicht um eine solche tote Menge handelt, sondern daß das lauter lebensvolles Material ist! Wir dürfen uns auch dadurch nicht beirren lassen, daß wir komisch sind, nicht wahr? Es ist ja freilich wirklich so: wir sind komisch, leichtsinnig, haben schlechte Angewohnheiten, langweilen uns, verstehen nicht zu sehen, verstehen nicht zu begreifen, wir sind ja alle von dieser Art, alle, Sie und ich
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