Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Idiot

Der Idiot

Titel: Der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor M. Dostojewskij
Vom Netzwerk:
hätte, nun für ihren Topf unsere Terrine behalten, und ich hätte ihr das selbst vorgeschlagen. Über eine solche Gemeinheit von ihrer Seite geriet ich natürlich außer mir, das Fähnrichsblut kam in Wallung; ich sprang auf und lief zu ihr hin. Als ich zu der Alten hinkam, kochte ich sozusagen vor Wut; ich sehe mich um, und da sitzt sie ganz allein auf dem Flur in einer Ecke, als ob sie sich vor der Sonne versteckt hätte, die eine Wange auf die Hand gestützt. Nun, wissen Sie, da ließ ich denn gleich einen ganzen Hagel von Scheltworten auf sie niederprasseln: ›Du bist ja‹, sagte ich, ›eine...‹ und so weiter und so weiter, wissen Sie, so in echt russischer Art. Wie ich sie aber so anblicke, kommt es mir sonderbar vor: sie sitzt da, das Gesicht mir zugewendet, die Augen weit geöffnet, und antwortet kein Wort und sieht so sonderbar, ganz sonderbar aus und nickt, wie es scheint, mit dem Kopfe. Ich schweige schließlich still, sehe sie an, frage sie, bekomme aber keine Antwort. Ich stand noch ein Weilchen unschlüssig da, die Fliegen summten, die Sonne war im Untergehen, es herrschte tiefe Stille; ganz verwirrt ging ich endlich fort. Ich war noch nicht nach Hause gelangt, da wurde ich zum Major befohlen; dann mußte ich zur Kompanie gehen, so daß ich erst spät am Abend nach Hause zurückkehrte. Das erste, was Nikifor zu mir sagte, war: ›Wissen Sie schon, Euer Wohlgeboren, unsere frühere Wirtin ist gestorben.‹ – ›Wann denn?‹ – ›Heute abend, so vor anderthalb Stunden.‹ Also war sie gerade zu der Zeit verschieden, als ich sie ausschimpfte. Das machte einen solchen Eindruck auf mich, kann ich Ihnen sagen, daß ich kaum meiner Sinne mächtig war. Wissen Sie, ich mußte fortwährend daran denken, selbst in der Nacht träumte ich davon. Ich bin ja wahrhaftig nicht abergläubisch, aber ich ging doch am dritten Tag in die Kirche zu ihrer Beerdigung. Kurz, je weiter dieses Ereignis in die Vergangenheit zurückrückt, um so mehr muß ich daran denken. Und manchmal, wenn ich es mir so vergegenwärtige, wird mir ganz unwohl. Der Hauptpunkt ist: was lag da vor, nach der Art, wie ich mir die Sache schließlich zurechtlegte? Erstens, es war eine Frau, sozusagen ein menschliches Wesen, und man redet ja in unserer Zeit soviel von Humanität; sie hatte lange, sehr lange gelebt, schließlich war sie müde und matt geworden. Sie hatte früher einmal Kinder, einen Mann, eine Familie, Verwandte gehabt, alles hatte sozusagen um sie gewimmelt, alle hatten sie sozusagen angelächelt – und auf einmal eine völlige Leere, alles in die vier Winde zerstoben, und sie war allein geblieben wie ... wie eine von Ewigkeit her verfluchte Fliege. Und nun endlich setzt Gott ihrem Leben ein Ende. Mit dem Untergang der Sonne an einem stillen Sommerabend geht auch meine Alte dahin, gewiß nicht ohne erbauliche Gedanken, und gerade in diesem Augenblick stellt ein junger, hitziger Fähnrich, statt ihr sozusagen mit einer Träne das Geleit zu geben, sich schräg vor sie hin, stemmt die Arme in die Seiten und überschüttet sie bei ihrem Dahinscheiden wegen einer ihm genommenen Terrine mit einer Flut der derbsten russischen Schimpfworte! Ohne Zweifel habe ich mich da schuldig gemacht, und obwohl ich jetzt so lange nachher infolge der vielen seitdem vergangenen Jahre und der in meinem Charakter vorgegangenen Veränderungen jene Handlung wie die eines Fremden betrachte, so tut es mir doch immer noch leid. Das kommt mir – ich wiederhole es – sogar seltsam vor, denn wenn ich auch schuldig bin, so ist doch meine Schuld nicht übergroß: warum mußte es ihr auch gerade in dem Augenblick in den Sinn kommen zu sterben? Selbstverständlich gibt es nur eine Entschuldigung: meine Handlung war vom psychologischen Standpunkt aus erklärlich, »Was mir meine Aufgabe am meisten erleichtert«, begann Afanassij Iwanowitsch, »das ist die unbedingte Verpflichtung, nichts anderes zu erzählen als die schlechteste Handlung meines ganzen Lebens. In einem solchen Falle ist selbstverständlich kein Schwanken möglich: das Gewissen und das Gedächtnis geben einem ohne weiteres ein, was man zu erzählen hat. Ich bekenne mit tiefem Schmerz, daß unter all den vielleicht zahllosen leichtfertigen und unbedachten Handlungen meines Lebens eine ist, die in meinem Gedächtnis einen außerordentlich peinlichen Eindruck hinterlassen hat. Die Sache begab sich vor ungefähr zwanzig Jahren; ich befand mich damals auf dem Lande zu Besuch bei Platon Ordynzew. Er war

Weitere Kostenlose Bücher