Der Ikarus-Plan - Ludlum, R: Ikarus-Plan
hast die Ungläubigen nicht erschlagen?« fragte der Junge mit trauriger Stimme.
»Sie sind alle tot«, antwortete Asra. »Jetzt hör mir...«
»Allah sei gepriesen!«
»Allah soll still sein, und du sollst still sein und mir zuhören! Ich muß hinein, und das schnell. Geh zu Jatim oder Abjad – renn, als ob es um dein Leben ginge...«
»Mein Leben ist wertlos!«
»Aber meines nicht, verdammt! Jemand soll mit Instruktionen herkommen. Lauf!«
Während er wartete, begann es in Asras Brust und Schläfen zu hämmern. Er beobachtete das Licht im Osten, das sich anschickte, über diesem Teil der Erde aufzuflammen. Er wußte, wenn es soweit war, war es mit ihm zu Ende, war das sein Tod, würde er nicht mehr gegen die Halunken kämpfen können, die ihm sein Leben gestohlen, seine Kindheit mit Blut ausgelöscht und seine und Sajas Eltern bei einem von den Israelis sanktionierten Feuerüberfall getötet hatten.
Er erinnerte sich noch so lebhaft und so schmerzlich an alles. Sein Vater, ein sanfter, hochbegabter Mann, hatte in Tel Aviv Medizin studiert, bis die hohe Obrigkeit in seinem dritten Studienjahr erklärte, er eigne sich besser zum Apotheker, und er seinen Studienplatz an einen eingewanderten Juden abgeben mußte. So etwas war allgemein üblich. Merzt die Araber aus den Intelligenzberufen aus, lautete das israelische Glaubensbekenntnis. Im Lauf der Jahre wurde sein Vater jedoch in ihrem Dorf am Westufer der einzige »Doktor«; die Arzte der Regierung, die regelmäßig aus Be’er Sheva kamen, waren Nieten; zu einer richtigen Praxis reichte es bei ihnen nicht, und sie waren gezwungen, sich ihre Schekalim in den kleinen Städten und den Camps zu verdienen. Einer führte Beschwerde gegen Asras Vater, und das war, als habe er die Schrift in die Klagemauer eingemeißelt. Die Apotheke wurde von der Behörde geschlossen.
»Wir wollen doch nur ein ganz unauffälliges Leben führen, wann laßt ihr das endlich zu?« hatte der Vater gerufen.
Die Tochter Saja und der Sohn, der später Asra, der Terrorist, wurde, bekamen auch eine Antwort auf dieses väterliche Stoßgebet. Die »Israelische Kommission für arabische Angelegenheiten am Westufer« erklärte, ihr Vater sei ein Unruhestifter. Die Familie wurde aus dem Dorf ausgewiesen.
Sie ging nach Norden, in Richtung Libanon; sie wäre überall hingegangen, wo man sie aufgenommen hätte. Und dann kam sie auf ihrer langen Wanderung in ein Flüchtlingslager namens Schatila.
Hinter einer niedrigen Gartenmauer versteckt, beobachteten Bruder und Schwester, wie – mit vielen anderen – ihre Eltern abgeschlachtet wurden, von Stakkatosalven niedergemäht, aus Mund, Augen und unzähligen Wunden blutend. Und das Dröhnen israelischer Artillerie in den Bergen klang den Kindern wie teuflisches Triumphgeheul in den Ohren. Jemand hatte die Operation in Schatila nachdrücklich gebilligt.
Damals wurde das sanfte Kind Saja Jatim zur eiskalten Strategin und ihr Bruder zu Asra, dem jetzt weltweit bekannten jüngsten »Kronprinzen« der Terroristen.
Die Erinnerungen rissen jäh ab, als aus dem Botschaftsgebäude ein Mann auf das Tor zugelaufen kam.
»Blau!« rief Abjad. »In Allahs Namen, was ist geschehen? Deine Schwester ist außer sich, aber du verstehst, daß sie nicht herauskommen kann, nicht als Frau, nicht um diese Zeit und ganz besonders nicht, wenn du hier stehst. Wir werden von allen Seiten beobachtet – was ist mit dir passiert?«
»Das erzähle ich euch, sobald wir in der Botschaft sind. Wir haben nicht mehr viel Zeit. Mach schnell!«
»Wir?«
»Ich, Yosef und ein Mann namens Bahrudi – er kommt vom Mahdi. Schnell! Es ist schon fast hell. Wohin sollen wir uns wenden?«
»Allmächtiger Gott – der Mahdi!«
»Abjad, bitte!«
»An der Ostmauer ist etwa vierzig Meter von der südlichen Ecke entfernt eine alte Kanalisation...«
»Die kenne ich. Wir haben daran gearbeitet. Ist sie jetzt passierbar?«
»Man muß kriechen, aber passierbar ist sie. Es gibt da eine Öffnung...«
»Unter den drei großen Felsblöcken im Wasser«, ergänzte Asra und nickte hastig. »Schick jemanden hin. Wir laufen mit dem Licht um die Wette.«
Asra-Blau entfernte sich von dem mit Ketten gesicherten Tor und bog, unauffällig schneller werdend, um die Südecke der Mauer. Er blieb stehen, preßte den Rücken an die Steine und ließ die Blicke über die verbarrikadierten Läden schweifen. Yosef trat halb aus einer Tornische heraus; Asra sollte wissen, daß er ihn nicht aus den Augen
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