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Der illustrierte Mann

Der illustrierte Mann

Titel: Der illustrierte Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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ihn mir, und ich hörte zu.«
    »Und es war derselbe Traum?«
    »Derselbe. Ich sagte es Stan, und er schien davon nicht einmal überrascht zu sein. Im Gegenteil, er atmete sichtlich auf. Danach begannen wir, das ganze Büro durchzukämmen. Das war nicht etwa geplant. Wir hatten uns nicht dazu verabredet, wir gingen einfach los, jeder für sich, und überall hatten die Leute die Blicke auf ihre Hände oder Schreibtische gesenkt oder sahen aus dem Fenster. Ich sprach mit einigen. Stan ebenfalls.«
    »Und sie hatten alle geträumt?«
    »Alle. Denselben Traum – ohne jeden Unterschied.«
    »Und du glaubst daran?«
    »Ja. Ich bin mir nie einer Sache sicherer gewesen.«
    »Und wann wird sie enden? Die Welt, meine ich.«
    »Für uns irgendwann in dieser Nacht, und während die Nacht weiter um die Welt geht, wird alles andere mitgehen. Im ganzen wird es vierundzwanzig Stunden dauern, bis alles zu Ende ist.«
    Sie saßen eine Weile, ohne ihren Kaffee anzurühren. Dann hoben sie langsam die Tassen und tranken, sich dabei in die Augen sehend.
    »Haben wir das verdient?« fragte sie.
    »Darum dreht es sich ja gar nicht; die Dinge sind einfach nicht so gelaufen, wie sie hätten sollen. Übrigens stelle ich fest, daß du nicht einmal an dieser Sache zu zweifeln scheinst. Warum nicht?«
    »Ich glaube, ich habe meine Gründe dafür«, erwiderte sie.
    »Dieselben wie alle in meinem Büro?«
    Sie nickte langsam. »Ich wollte eigentlich nichts sagen. Ich träumte es letzte Nacht. Und die Frauen in unserem Häuserblock redeten heute untereinander darüber. Sie haben es auch geträumt. Ich dachte, es sei nur ein zufälliges Zusammentreffen.« Sie nahm die Abendzeitung in die Hand. »In der Zeitung steht nichts davon.«
    »Warum auch, es weiß ja jeder.«
    Er lehnte sich in seinen Sessel zurück und sah sie an. »Fürchtest du dich?«
    »Nein. Früher habe ich das immer geglaubt, aber jetzt habe ich keine Angst.«
    »Wo bleibt dieser sogenannte Selbsterhaltungstrieb, über den so viel geredet wird?«
    »Ich weiß nicht. Man regt sich nicht besonders auf, wenn man das Gefühl hat, daß die Dinge sich logisch entwickeln. Dies hier ist logisch. Nach dem Leben, das wir geführt haben, war nichts anderes zu erwarten.«
    »Sind wir denn so schlecht gewesen?«
    »Nein, aber auch nicht besonders gut. Und ich glaube, darin liegt unser Fehler – wir haben uns zuviel mit uns selbst beschäftigt, während ein großer Teil der Welt nichts Besseres zu tun hatte, als lauter schreckliche Dinge anzurichten.«
    Im Wohnzimmer lachten die Mädchen.
    »Ich habe immer gedacht, die Leute würden vor einem solchen Ereignis schreiend durch die Straßen rennen.«
    »Man schreit nicht, wenn man dem Unausweichlichen gegenübersteht.«
    »Weißt du, außer dir und den Kindern würde ich nie etwas vermissen. Meine Arbeit, die Stadt – nichts außer euch dreien habe ich je wirklich geliebt. Ich würde nichts anderes vermissen – außer vielleicht den Wechsel im Wetter und ein Glas kaltes Wasser, wenn es sehr heiß ist, und vielleicht den Schlaf. Wie können wir hier nur so ruhig sitzen und so darüber reden?«
    »Weil es nichts anderes zu tun gibt.«
    »Du hast recht, natürlich; denn sonst würden wir es tun. Wahrscheinlich ist dies das erste Mal in der Geschichte der Welt, daß jedermann genau weiß, was er in der kommenden Nacht tun wird.«
    »Ich würde gern wissen, was all die andern in den nächsten Stunden, heute abend, tun werden.«
    »Irgendeine Vorstellung besuchen, Radio hören, vor dem Fernsehgerät sitzen, Karten spielen, die Kinder zu Bett bringen, schlafen gehen – wie immer.«
    »In gewisser Weise ist das etwas, worauf man stolz sein kann: wie immer.«
    Sie schwiegen einen Augenblick, während er sich eine frische Tasse Kaffee eingoß. »Warum nimmst du an, daß es heute nacht geschehen wird?«
    »Weil es so ist.«
    »Warum geschah es nicht in irgendeiner Nacht des vorigen Jahrhunderts, oder vor fünf Jahrhunderten, oder zehn?«
    »Vielleicht, weil noch nie der 19. Oktober 1969 gewesen ist, noch nie in der Weltgeschichte, und heute ist er da; weil dieses Datum wichtiger ist als jedes andere Datum zuvor; weil in diesem Jahr die Dinge überall in der Welt so und nicht anders sind, und weil darum das Ende kommen muß.«
    »Auch heute nacht fliegen strategische Bomberkommandos, die nie wieder landen werden, auf ihren vorgeschriebenen Routen in beiden Richtungen über den Ozean.«
    »Das ist einer der Gründe, warum.«
    »Also«, sagte er und stand auf,

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