Der im Dunkeln wacht - Roman
mich nicht, jemanden in der Nähe gesehen zu haben.«
»Es stand also kein Ihnen unbekanntes Fahrzeug vor dem Haus?«
»Darauf habe ich nicht geachtet. Ich hab’s nicht so mit Autos.«
Bei der letzten Bemerkung umspielte ein Lächeln den kleinen roten Geisha-Mund.
W ie immer war es unmöglich, einen freien Parkplatz in der Nähe des Präsidiums zu finden. Die gesamte Umgebung glich einer riesigen Baustelle. Natürlich hatte Irene ihren Regenschirm zu Hause vergessen. Und obwohl sie den Weg vom Auto zum Eingang des Gebäudes rennend zurücklegte, wurde sie tropfnass. Als sie im Fahrstuhl nach oben fuhr, begann sie in ihren nassen Kleidern zu frieren. Ein großer Becher heißen Kaffees war genau das, was sie jetzt brauchte, um wieder warm zu werden. Irene beschleunigte ihre Schritte, um schnell noch vor der Morgenbesprechung ihre feuchte Jacke aufzuhängen und zum Kaffeeautomaten zu gehen. Als sie auf den Korridor einbog, der zu ihrem Büro führte, wäre sie beinahe mit Hannu Rauhala zusammengestoßen.
»Hallo, beeil dich«, sagte er und eilte an ihr vorbei.
Ehe Irene fragen konnte, warum es so rasend eilig sei, sagte er über die Schulter: »Sie haben noch eine gefunden.«
Noch eine? Noch eine eingepackte Leiche? Noch ein Mord? Irene spürte, wie Eiseskälte über ihre Kopfhaut hoch und den Nacken hinunterlief. Das war keine gute Neuigkeit. Schlimmstenfalls hatten sie es mit einen Serienmörder oder einem Nachahmungstäter zu tun. War es ein Nachahmungstäter, im englischen Fachjargon Copycat-Killer, der sich von dem Mord an Ingela Svensson hatte inspirieren lassen, dann würden sie das bald wissen. Die Verpackung der Leiche war sehr speziell gewesen, und davon war nichts an die Presse gegeben worden. Schweren Herzens und ohne Kaffee betrat Irene das Besprechungszimmer.
»Der letzte Mann ist eine Frau. Wie nett, dass du auch noch kommst«, sagte Kommissarin Thylqvist mit deutlichem Sarkasmus.
Irene nickte den anderen nur zu und ihrer Chefin eher weniger. Heute hatte sie für diese Person wirklich keinen Nerv.
»Um 6.32 Uhr verständigte ein Zeitungsbote den Notruf. Er hat ein in Plastik eingeschlagenes Paket gefunden, das einen Leichnam zu enthalten scheint. Offenbar hatte er auf dem Heimweg eine Abkürzung über den Friedhof in Frölunda genommen. Der Fund erfolgte also vor einer knappen Stunde. Ich will, dass Irene und Jonny sofort hinfahren und Kontakt zu Hannu halten. Hannu bleibt hier, um eventuelle Vermisstenmeldungen entgegenzunehmen und die Liste der in den letzten Tagen vermisst gemeldeten Personen durchzugehen. Wir wissen schließlich noch nicht, wie lange diese Person schon tot ist. Die Leiche könnte vor der von Ingela Svensson auf den Frölunder Friedhof geschafft, aber jetzt erst gefunden worden sein.«
Die Kommissarin hatte recht. Wenn die Leiche bereits schon länger dort gelegen hatte. Die Eiseskälte, die sich Irene bemächtigt hatte, wollte nicht verschwinden.
Der Frölunder Friedhof lag auf einer Anhöhe. Er war vergleichsweise klein, und trotz des strömenden Regens war der Fundplatz schon aus der Entfernung zu sehen. Die Kriminaltechniker hatten Scheinwerfer aufgebaut, und mehrere Streifenwagen standen mit eingeschaltetem Blaulicht in der Nähe. Der Friedhof wirkte vernachlässigt, und viel deutete darauf hin, dass er nicht mehr benutzt wurde.
Der eingepackte Leichnam lag auf einem alten Grab, das von einer spärlichen, ungepflegten Hecke aus Nadelholz umgeben war. Jahrzehntelanger Regen und Wind hatten die Inschrift des Grabsteins unleserlich gemacht. Mit etwas gutem Willen konnte Irene den Namen Johan und die Jahreszahl 1893 entziffern.
Der Mörder hat versucht, die Leiche, die wir am Samstag gefunden haben, zu verstecken, aber dieses Mal hat er sich diese Mühe nicht gemacht. Das hier ist ein späterer Mord, dachte Irene. Falls es sich tatsächlich um Ingela Svenssons Mörder handelt. Die Art der Verpackung legte diese Vermutung nahe. Die dicke Plastikfolie war sorgfältig mehrmals um die Leiche gewickelt und dann an mehreren Stellen ordentlich mit braunem Paketklebeband verschnürt.
»Wir machen es wie letztes Mal und öffnen die Folie erst auf der Gerichtsmedizin«, entschied Jonny.
Man konnte nicht immer Glück haben. Die Wahrscheinlichkeit, dass ihnen diesmal Yvonne Stridner erspart bleiben würde, war gering. Obwohl Irene wusste, dass Morten Jensen bis Mittwoch weg sein würde, nährte sie trotzdem eine schwache Hoffnung, dass sie jemand anderen von der
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