Der im Dunkeln wacht - Roman
überkam ein leichter Schauer. Die Vergangenheit kehrte wieder. Jetzt war sie also zurück, um sich mit Angelicas Schicksal zu befassen.
Gisela war immer noch eine schöne Frau. Sie trug das helle Haar apart kurz. Vielleicht waren die Falten um ihre hellblauen Augen etwas tiefer geworden, aber das fiel weiter nicht auf. Die verstrichene Zeit hatte Gisela schonender behandelt als ihre ehemalige Kollegin Angelica. Irene erläuterte ihr kurz den Anlass dieses Gesprächs. Ohne Umschweife erzählte sie von den Dingen, die ihre Familie in letzter Zeit heimgesucht hatten. Es sei zweifelsfrei erwiesen, dass Angelica dafür verantwortlich sei. Als sie fertig war, schwieg die Frau, die ihr gegenübersaß lange. Dann ergriff sie das Wort.
»Hat sie Sie und Ihre Familie verfolgt? Ja, das erstaunt mich
nicht. Angelica ist so … von Hass erfüllt. Alle seien gegen sie. Von dem Gedanken war sie bereits besessen, als sie kündigte. Auch ich bekam einiges zu hören.«
Sie verstummte und sah sehr ernst aus.
»Soweit wir wissen, war sie in den letzten Jahren psychisch krank. Hat sie deswegen hier aufgehört?«, fragte Irene.
Gisela warf ihr einen langen Blick zu und sagte dann:
»Vielleicht war sie ja damals schon krank. Sie begann jedenfalls, sich merkwürdig zu benehmen. Das Geld … Sie trank Ssehr viel. Sie war nicht nüchtern, wenn sie hierher kam, und konsumierte auch andere Sachen als Alkohol. Das war zu jener Zeit, als man feststellte, dass Frej psychisch krank war. Laut seinen Ärzten litt er an einer ernsten Persönlichkeitsstörung. Angelica war außer sich. Mit ihrem Sohn sei alles in Ordnung! Sophies Tod hat sie ohne größere Probleme verkraftet, aber dass ihr geliebter kleiner Frej … Nein, damit kam sie nicht zurecht.«
»Wann kündigte sie?«
»An Weihnachten werden es fünf Jahre. Am letzten Tag des Herbstsemesters stürzte sie bei mir rein und klagte über alles und jeden. Niemand an der Schule könne was. Wir hätten ihre Arbeit nie zu schätzen gewusst und auch nie begriffen, was für eine einzigartige Tänzerin sie sei. Ich sei vollkommen inkompetent und so weiter. Als ihr die Worte ausgingen, warf sie den gesamten Inhalt des Bücherregals und die Sachen vom Schreibtisch auf den Fußboden. Nach diesem Ausbruch kündigte sie und hat dieses Gebäude nie mehr betreten.«
»Konnte sie sich das erlauben? Ich meine, einfach so kündigen? Sie hatte zwar etwas Geld von Sophie geerbt, aber das dürfte kaum gereicht haben, um sich zur Ruhe zu setzen. Sie hatte doch außerdem mit dem Haus in Änggården sehr viel vor«, meinte Irene.
Gisela nickte. Ihre Stimme klang traurig, als sie antwortete:
»Sie wollte ja diesen Mann heiraten, mit dem sie damals zusammen war … Ich erinnere mich nicht mehr, wie er hieß. Genau, wie Sie sagen, war sie dabei, das Haus in Änggården zu renovieren. Aber das lief nicht ganz so, wie Angelica es sich vorgestellt hatte. Ihr reicher und schon etwas in die Jahre gekommener Freund erwischte sie zusammen mit Marcelo Alves. Er ertappte die beiden in flagranti. Da kehrte er ihr einfach den Rücken zu und verschwand aus ihrem Leben. Ich weiß das, weil Marcelo es mir selbst erzählt hat. Er wusste auch, dass Angelica angefangen hatte, größere Mengen Kokain zu nehmen. Ihre Ausbrüche machten ihm Angst.«
»Arbeitet Marcelo noch hier?«
»Nein. Auch er hat aufgehört. Ich glaube, er wohnt jetzt in England.«
Diese Antwort war sehr kurz, und Irene erinnerte sich an ihren Verdacht in Bezug auf Gisela und den schönen Brasilianer. Taktvoll ließ sie das Thema Marcelo ruhen.
»Angelica stand also mit dem baufälligen Haus in Änggården allein da«, stellte Irene fest.
»Ja. Sie lebte, wie mir zu Ohren kam, sehr ausschweifend und unbekümmert. Sie machte mit der Renovierung weiter, solange das Geld reichte. Aber als es aufgebraucht war, kam alles zum Erliegen. Sie hatte große Mühe, das Haus zu verkaufen, da alles, wenn überhaupt, nur halbfertig war. Es heißt, sie habe mit Verlust verkauft. Frej ging es schlecht, sie selbst befand sich in einer Krise … Es wurde einfach zuviel. Sie klappte zusammen und wurde in die Psychiatrie eingewiesen. Soweit ich weiß, war sie seither immer mal wieder dort.«
»Haben Sie sie noch mal getroffen, seit sie hier aufgehört hat?«
»Nein.«
Ohne ein Wort zog Irene das Foto von Angelica aus der Tasche und legte es vor Gisela auf den Schreibtisch. Diese betrachtete es lange.
» Wie schrecklich! Die arme Angelica«, sagte sie und atmete dabei
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