Der im Dunkeln wacht - Roman
ist das auch eine Geschichte, die ihm Signe erzählt hat. Marie wurde schwanger, als sie fünfzehn war. Daniel kam zur Welt, als sie gerade sechzehn geworden war. Sie war einige Wochen nach der Entbindung zu Hause bei ihren Eltern, aber dann ist sie abgehauen.
Daniel ließ sie zurück. Zwei Monate später wurde sie tot in einem Haus voller Drogensüchtiger aufgefunden.«
»War sie drogensüchtig?«
»Ja. Sie haute von zu Hause ab, als sie vierzehn war. Ivar … also ihr Vater … erzog sie sehr streng. Ich mochte ihn nie. Ein Tyrann vor dem Herrn. Und Signe war einfach zu lieb. Ich bin davon überzeugt, dass Ivar sich gezielt eine milde und fügsame Frau ausgesucht hat, die er dominieren konnte. Sowohl er als auch Signe waren fromm, immerhin das hatten sie gemeinsam. Sie protestierte nicht, wenn er Marie zu streng behandelte. Er war so streng, dass sie sich auflehnte. Sie schwänzte die Schule und blieb tagelang weg. Sie wurde so ein Hippie mit Blumen im Haar und Flausen im Kopf, und sie begann Drogen zu nehmen. Ihre Eltern versuchten alles, aber nichts half. Sie sperrten sie ein, prügelten sie, drohten … Ja, nichts fruchtete, wie gesagt. Nehmen Sie doch noch was«, sagte sie dann mit einem freundlichen Lächeln.
Gehorsam streckte Irene die Hand aus und nahm ein Kuchenstück.
»Im Jahr vor Maries Tod sagte Signe, sie sei optimistisch, denn das Mädchen habe sich einer Gemeinschaft angeschlossen, die ›Das Volk Jesu‹ hieß. Das waren irgendwelche bekehrten Hippies. Sie wohnten außerhalb der Stadt in einer Wohngemeinschaft. Das war ja damals so. Marie konnte das wirklich gut gebrauchen, die Erlösung, meine ich, aber was half das? Nach ein paar Monaten tauchte sie wieder zu Hause auf – hochschwanger. Daniel kam in der Klinik zur Welt, und die Ärzte empfahlen, Marie solle eine Entziehungskur machen. Aber dazu kam es nie. Sie verschwand vorher. Signe war untröstlich, kümmerte sich aber rührend um Daniel. Sie hatte sich immer viele Kinder gewünscht, aber sowohl sie als auch Marie hatten schwere Entbindungen, und sie durften keine weiteren Kinder bekommen.«
Nach dieser langen Erläuterung musste sich Alice erst einmal mit ein paar Schlückchen Kaffee stärken. Das gab Irene die Möglichkeit,
die Frage zu stellen, die ihr schon lange auf der Zunge gelegen hatte.
»Woran ist Marie gestorben?«, fragte sie.
»An irgendwelchen Infektionen und einer Überdosis Heroin. Die Ärzte sagten, sie habe sich nicht richtig von der Entbindung erholt und sich dann eine Infektion zugezogen. Vielleicht wollte sie ja mit dem Heroin die Schmerzen betäuben? Vielleicht war sie auch nicht mehr an das Zeug gewöhnt und verpasste sich eine Überdosis. Oder es war Selbstmord. Es dauerte ein paar Tage, bis sie gefunden wurde. Signe trauerte sehr, aber Ivar war ein harter Mann. Sagte ich bereits, dass ich ihn nie mochte? Er sagte, das Mädchen sei an ihrem Unglück selbst schuld gewesen. Gottes Strafe und so ein Unsinn. Ich frage mich, wie er über Gottes Strafe dachte, als er selbst krank wurde. Er starb Anfang der 90er Jahre an Krebs, und zwar sehr schnell. Signe und der Junge lebten jedenfalls siebzehn oder achtzehn Jahre ohne ihn«, meinte Alice.
Sie versuchte nicht einmal ihre Genugtuung über diesen Umstand zu verbergen. Die Gute hat wirklich eine scharfe Zunge, aber als Informationsquelle ist sie Gold wert, dachte Irene. Sie wusste, dass Ivar Börjesson 1992 im Alter von 58 Jahren verstorben war. Er war sieben Jahr älter als Signe gewesen. Sie wusste auch, dass er als viertes von neun Kindern auf Donsö in den Schären im Süden Göteborgs zur Welt gekommen war. Offenbar waren die Geschwister in der Zucht und Vermahnung des Herrn erzogen worden. Wahrscheinlich hatte er das ohne Erfolg bei seiner Tochter ebenfalls versucht.
»Jedenfalls wurde Signe und Ivar das Sorgerecht für Daniel zugesprochen«, sagte Irene, damit Alice weitererzählen würde.
»Ja. Sonst gab es auch niemanden. Signe war außerdem erst fünfunddreißig, als Marie starb. Allerdings war Ivar schon über vierzig. Aber manchmal frage ich mich …«
Alice verstummte und sah Irene nachdenklich an. Offenbar
kam sie zu einem positiven Ergebnis, denn sie räusperte sich und fuhr fort:
»Manchmal frage ich mich, aus welchem Grund Marie eigentlich abgehauen ist. Gewisse Dinge, die Signe und auch Marie angedeutet haben, haben mich nachdenklich werden lassen … Ich habe nie mit jemanden über meinen Verdacht gesprochen, aber um es einmal so auszudrücken
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