Der Implex
Bewußtsein nach dem linguistic turn und der antifundamentalistischen Wende vom Ontisch-Metaphysischen zum Hermeneutischen anhand von Sprachereignissen und Sprechakten statt anhand von Bewußtseinsereignissen und Bewußtseinsakten formulieren wollten; für unser Vorhaben und die Herausbildung unserer eigenen Implexbegrifflichkeit von besonderer Bedeutung waren dabei die Implikaturenlehre von Paul Grice, der zu beschreiben versucht hat, wie in Gesprächen Bedeutung produziert wird, und der Inferentialismus Robert B. Brandoms, der Bedeutung insgesamt als den Stellenwert eines Informationselements in einer Kette von Folgerungen fassen möchte. Die Reduktion von Implikaturen und Inferenzen auf Sprachliches allerdings vollziehen wir genausowenig mit wie die des Implexbegriffs auf etwas dem Bewußtsein Gemäßes; die Verallgemeinerung auf alle benennbaren und beschreibbaren Arten von zeitlich vorkommenden Sachverhalten ist unserem Einfall vielmehr wesentlich. Von unserer Auffassung der Wirklichkeit und Aufgabe von Philosophie – ob vor oder nach dem linguistic turn – und von dem, was unseren Ansatz, der einerseits einige ihrer Begriffe verallgemeinert, also mehr will als sie, und andererseits eine Reihe von Ansprüchen gar nicht erst erhebt, denen die Philosophie immer gerecht zu werden versucht hat, also darüber, daß wir wissen, daß wir zugleich mehr wollen und weniger können als noch die schlankste und reduzierteste philosophische Arbeit, wird man ein genaueres Bild nach Lektüre des dreizehnten Kapitels dieses Buches haben,
und weil Valéry schließlich drittens die Tatsache, daß der Implex nur als expliziter wahrgenommen werden kann und deshalb der Explikation, also bestimmter Handlungen, die ihn sichtbar und wirksam machen, bedarf, zwar ausspricht, aber vernachlässigt (er behandelt den Implex noch nach dem Schema »Dinge stecken in Dingen« statt »Handlungen und Ereignisse stecken in Handlungen und Ereignissen«). Daß die meisten geschichtlich und politisch interessanten Abhängigkeitsbeziehungen zwischen Dingen oder Sachen, und zwar die logischen wie die materialen, solche des Tuns, der Hexis wie der Praxis also, sind, haben wir nicht nur unter Rückgriff auf Luhmanns Begriff der Interpenetration, auf Grenzscheiden wie die zwischen Natur und Sozialem etc. immer wieder illustriert und bekräftigt; es gilt selbst für die engsten, im abendländischen Denken besonders privilegierten Identitätsbeziehungen; mit fortschreitendem Alter der exakten Wissenschaften interessieren sich diese gerade dafür immer mehr – die Kategorientheorie beispielsweise, eine noch nicht sonderlich alte Verallgemeinerung bestimmter Züge der Mathematik zum Zweck der Selbstklärung zahlreicher mathematischer Begriffsmuster, behandelt selbst die Gleichung, das identitäre Gleichgewicht schlechthin, als eine bestimmte Sorte mathematischer Handlung, Operation, Aktion: Zu sagen, »x ist y« bedeutet demnach, »man kann aus x jederzeit y machen«, was sich sogar an Kindergartengleichungen wie etwa 2 + 6 = 4 + 4 zeigen läßt: Ich kann acht Objekte, die untereinander gegliedert sind nach einem mit zwei und sechs Elementen, in ein neues Arrangement verwandeln, wenn ich von den sechsen zwei fortnehme und zu den zweien lege. Damit das aber passiert, muß ich es tun; die Kategorienlehre behauptet, daß wir genau das machen, wenn wir diese Gleichung denken oder hinschreiben.
Wir haben den bei Valéry gefundenen Implex-Begriff also um zwei Erweiterungen (alle Ereignisse anstelle bloß der subjektiven, alle anstelle bloß der bewußtseinsvermittelten) und eine Einhegung (nicht alles, was passieren kann, nur das, was gemacht wird) modifiziert, und daß er damit auch dazu taugt zu beschreiben, wie Musik in Glyphen steckt, ist letztlich nur ein Sonderfall der allgemeineren Bestimmung, der Implex sei das, was zu einem bestimmten Zeitpunkt gemacht werden könnte (das Musikstück, etwa, ließe sich aufführen, unter Verwendung der »Ursachen«, die das graphische, »beharrliche und zyklische« System anbietet – zyklisch ist es, weil man wieder vorn anfangen kann, wenn man aufgehört hat, auch zeitversetzt; in jeder Musik steckt mindestens ein Kanon).
Das Fahrzeug – nennen wir es, mit H.G. Wells, the Shape of Things to Come – frißt Zeit, hungriger noch, als es den Weg verschlingt, Scheitern ausscheidet und neuerdings auch die Erinnerung nicht mehr recht bei sich behält.
Dieses Kapitel fragt, was die Leute, die dieses Fahrzeug befördert,
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