Der Implex
»Randgruppen« und deren Nöten in einem Unfang die Rede war, daß man zeitweilig den Eindruck bekam, bereits in jener sozialarbeitergelenkten idealen Erziehungsdiktatur zu leben, die dann mit erreichter Regierungsfähigkeit der GRÜNEN in Kommunen, Ländern und Bund ihren Abglanz in der politischen Wirklichkeit von Mülltrennung, Dosenpfand und Minderheitenbeauftragten fand, hätte kaum jemand von denen, die das entsprechende Weltverbessererdeutsch im Munde führten, auch nur ihre oder seine materielle Position im Ineinanderverschlungensein von allerlei sozialen Mengen, Schichten (bei den Allervorwitzigsten manchmal gar tatsächlich »Klassen«), Privilegien, Benachteiligungen und so fort präzise bestimmen können. Auch und gerade bei Linken bekam man weitaus häufiger Naturkategorien zu hören wie »die Jugendlichen« oder »ich als Frau« als etwa »die Scheinselbständigen« oder »ich als lohnabhängige EMMA-Redakteurin« – Männer waren selbstredend nicht besser, die verstanden sich lieber als Hessen oder Weiberhelden denn als Taxifahrer oder Wohnungserben. Was nicht Natur war oder sonst ein Zufall, war Gesinnung: Oppositionell, irgendwie, waren sie jedenfalls alle.
Wo die Konfusion aus Gewordenem, Gewesenem, Gedachtem und Empfundenem derart die Köpfe beherrscht, nimmt nicht wunder, daß man die individuelle wirtschaftlich-soziale Existenzweise schließlich für eine Frage des Lebensstils hielt, für eine der abhängigen Variablen von dumpfdezisionistisch gespürter Individualität schlechthin – je schematischer und argumentärmer die braven Abkömmlinge klein- bis kleinstbürgerlicher Haushalte zehn bis fünf Jahre zuvor im SDS oder irgendeiner K-Gruppe die komplexesten Vorkommnisse des Gesellschaftslebens und Hoheitsakte des Staates zwischen Gastarbeiterwesen, Entwicklungshilfe, Theatersubvention, Konsumwerbung oder Lernmittelfreiheit unter Rückgriff auf allergröbste Basis-Überbau-Modelle »erklärt«, das heißt in Parolenraster einsortiert und abgeheftet hatten, desto unbekümmerter um Marktwirklichkeit, Selbstausbeutungsfallen und überhaupt jede Form ökonomischer Realität warfen sie sich in biologisch-dynamische Gemüseprojekte, genossenschaftliche Druckereien und Dritte-Welt-Läden, während bereits die nächste Generation, die sich zur Lösung der Frage der Ungleichheit des Lebensgenusses gleichfalls nicht auf Tucholskys Vorschlag einlassen mochte, es sollten eben alle reich heiraten, ihr Glück mit Solarien und Videotheken versuchte.
Die meisten dieser mehr oder weniger kooperativen, mehr oder weniger solidarischen Einzelnen und ihr Eigentum erlitten selbstredend Schiffbruch; denn die rührende Vorstellung, mein Dritte-Welt-Laden-Bewußtsein allein könne mich einem anderen sozioökonomischen Stratum zuordnen als demjenigen, dem ich kraft Herkunft, Ausbildung und Gezeiten der Akkumulation angehöre, konnte auch zu den euphorischsten Aufbruchszeiten der »neuen sozialen Bewegungen« sowenig Macht über die Lebensläufe entfalten wie derlei wahrnehmungsresistentes Denken je. Eine Komödie also, die sich aber mit fallweise durchaus tragischen Akzenten rund dreißig Jahre, ein Menschenalter später, nach exakt denselben öde idealistischen Vorgaben wiederholen sollte, diesmal in Berlin-Mitte statt irgendwo auf dem Land, aber im selben flachen Geist des Wahns, man könne unter privateigentümlichen Verhältnissen so einfach selbst bestimmen, ob man »Unternehmer« sei und was man dann unternehmen dürfe, diesmal nicht als »die Alternativen«, sondern als »digitale Boheme« – was dem älteren Bruder oder gar Vater der Kaffee aus Nicaragua, das waren dem Nachwuchs Laptop und Website.
Den »Netzwerk«-Begriff hatten sie sogar gemeinsam, bei den Älteren, denen Namen wie Rudolf Bahro und Baldur Springmann etwas bedeuteten, bezeichnete der etwas vage Anarchisch-Syndikalistisches, bei den anderen ein Gewurstel aus Facebook, Glasfaserkabel und Designstudienbekanntschaften. In Wirklichkeit ist man gerade in Deutschland, wo solche Moden mit der ganzen Wucht des Manifestschreibergestus vertreten werden, meist lebenslang da, wo man früh schon einsortiert wird, es sei denn, man tut etwas Politisches dagegen. Die Auseinandersetzung mit dieser trostlosen Wahrheit zu suchen, bedeutet allerdings, sich nicht nur am eigenen Schicksal abzuarbeiten, wie das die mit psychotherapeutischem Gewürz durchsetzte Parasoziologenrede der Selbsterfahrungsverblendeten erlaubt, erleichtert und fordert, sondern
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