Der Implex
finden war. Es ging sehr bald nicht um »Gewalt oder Arbeit«, sondern um deren Verhältnis zueinander: Wie wirken sie zusammen, wie schlagen sie ineinander um, wann, unter welchen Umständen, wer tut da wem was? So findet man die Theorie, wonach die »Heroen« der Vorzeit – ein Ausdruck, der hier nicht nur die Sorte Kriegshelden meint, die Goethe in seiner Trias von Raufebold, Habebald und Haltefest verewigt hat, sondern auch weitaus faustischere Gestalten wie die Errichter der ersten Dämme, Zureiter der Pferde, Urbarmacher landwirtschaftlicher Gegenden, Erdvermesser und Städtebauer – sich nicht nur aufgrund ihrer je und je physischen oder charakterlichen Kraft, sondern auch mithilfe ihrer Stellung im Produktionsprozeß zu Herrschern aufschwangen, deren Macht im Laufe der Zeit mit fortschreitender Arbeitsteilung und zunehmender Abstraktheit der Verrechnung des Reichtums vom »Volk« in Frage gestellt werden kann und muß, schon bei Giambattista Vico, dem ersten Versuch der Geistesgeschichte, einen Hegel hervorzubringen. Unter dem Einfluß cartesianischer und spinozistischer Philosophien in bürgerlichen Selbstbehauptungszentren wie den Niederlanden des siebzehnten Jahrhunderts wird dieser Ansatz in einer Form verfolgt, die man geradezu modern wird nennen müssen: bei Franciscus van den Enden zum Beispiel, dem Verfasser der Abhandlung Vrye Politikje Stellingen (»freie politische Einrichtungen«, 1665), liest man, ungerechte Elitenvorrechte speisten sich nicht aus dem Besitz der dicksten Kartoffeln oder Rinder, des schönsten Graslands und der schärfsten Waffen, sondern im exklusiven Zugang zu höheren Arbeitsprodukten wie der Medizin, Rechtsprechung, Wissenschaft, Philosophie und Politik: Der Mann war ein sehr früher linker Wissenssoziologe und konnte das sein, ohne von Marx ein Wort gelesen oder seinen Namen gehört zu haben. Die Verblüffung über solche Funde wird nicht allzugroß sein, wo man sich von den jüngeren Forschungen etwa Jonathan Israels darüber hat unterrichten lassen, wie radikal die Frühaufklärung gedacht hat; daß dieser Zug zum eben nicht nur epistemisch, kontemplativ und diskursiv, sondern auch sozial Grundsätzlichen in der Aufklärung tiefgreifend wirksam blieb bis in die heiße Phase ihrer politischen Blüte, die Zeit vom späten achtzehnten bis zum frühen neunzehnten Jahrhundert also, in der mehr Schritte auf dem Weg zur Aufhebung der Ungleichheit, die wir hier behandeln, unternommen wurden als je in einem Geschichtsabschnitt vorher, zeigen nicht zuletzt die englischen Worte, die wir oben zitiert haben, um das Gesellschaftsbild der Aufklärung auf der Höhe ihrer selbst zum Sprechen zu bringen – sie stammen von Anna Laetitia Barbauld, einer in jeder Hinsicht bemerkenswerten, im deutschsprachigen Raum sträflich unterbewerteten, ja nahezu unbekannten englischen Schriftstellerin, die von 1753 bis 1825 lebte und daher die heroische Etappe der Aufklärungsideen als deren entschiedene Parteigängerin mitgestalten konnte – »Voice of the Enlightenment« nennt William McCarthys verdienstvolle Biographie aus dem Jahr 2008 diese Frau, und von ernüchternden Überlegungen betreffend die Reichweite so einer Stimme in unserer Gegenwart einmal abgesehen, wird man dieser Charakterisierung zustimmen dürfen: Beeinflußt, aber anders als viele damals nicht bis zur affirmativ paraphrasierenden Schwärmerei hingerissen von Rousseaus Skizzen eines neuen, positiven, aber in seinen nativistischen Merkmalen auch von starker Überschätzung biologisch aufgefaßter Essentialien verzerrten Menschenbildes, machte sich Barbauld als Theoretikerin wie Verfasserin von Lyrik und anderer Belletristik öffentliche und im gebildeten England weite Verbreitung erreichende Gedanken über alles, was vom Naturrecht erfaßt, und manches, was davon nicht abgedeckt wird, über den Zusammenhang zwischen Gesellschaft und Geburt, Natürlichem und Konstruiertem, darüber, daß Menschenleben stärker als die sämtlicher anderer Tierarten von (bewußten und unwillkürlichen) Lernerfahrungen geprägt sind und daß gegen natürliches oder naturwüchsiges Unrecht nur dessen absichtliche, planvolle Brechung und Überwindung helfen. Ihre Schriften gegen die Sklaverei, gegen die instrumentelle Naturbeherrschung, gegen die Benachteiligung der Frauen und die erzieherisch gemeinte Abrichtung und Verblödung der Kinder hat man in jüngerer Zeit mit anachronistischen Adjektiven wie »ökofeministisch« und »wirtschaftsdemokratisch«
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