Der Implex
dann ihr Erbe antrat) hielt und hält bekanntlich mehr von Sekundärtugenden; was die sind, läßt sich immerhin sagen: Zucht und Ordnung, das Vermögen zu Gehorsam und Befehl, Fleiß, Sparsamkeit und Pünktlichkeit.
Das illegitime Kind der sozialpolitischen Seite der Französischen Revolution, die Arbeiterbewegung, die in Frankreich risikobereiter agierte als in Deutschland, von Deutschen aber systematischer gedacht wurde als von Franzosen, strebte nach Gütern, die entweder als Tugenden oder als Sekundärtugenden zu klassifizieren gar nicht so leicht fällt: Unbeugsamkeit, Fortschrittlichkeit, Solidarität. Die Tugenden des citoyen, die Sekundärtugenden des Hausmeisters und die Werte des linken Arbeiters haben gemeinsam, daß es sich dabei um normative Kategorien handelt, die zu Praxis wie Hexis in stark situationsabhängigen Relationen stehen.
Uns jedoch interessiert zunächst ihr Verhältnis untereinander, dessen Ordnung derjenigen, die zwischen Strategie und Taktik einerseits, Programm andererseits waltet, durchaus vergleichbar ist. Ohne Sekundärtugenden sind Tugendvorstellungen wie die der mündigen Franzosen politisch nicht als Parameter der Vergesellschaftung aufzurichten; das steht nicht anders als mit der Strategie ohne Taktik. Der Kategorienfehler, diese beiden Ebenen ineinanderkollabieren zu lassen, ist eine der Spielarten des naiveren Anarchismus: Mein Wert ist die Freiheit, also kann ich in meiner Organisation keine Befehlsketten etablieren oder auch nur zulassen – was wäre von einer Ärztin zu halten, die sagte: »Mein Wert ist der unversehrte Körper, also darf ich dem Unfallopfer nicht den Bauch aufschneiden«? Überhaupt alle sogenannte Gesinnungsethik ist eine liebevoll ausgebaute Verwechslung von Programmen mit Strategien und Taktiken. Gandhis hochverdienter Ruhm beruht nicht darauf, daß er seine Leute zur Gewaltlosigkeit anhielt (von vielen, die das aus aufrichtiger Herzensüberzeugung anderswo getan haben, weiß kein Mensch; ihr Irrtum macht sie moralisch nicht schlechter, aber zu politischen Nonentities), sondern weil dies – in präziser Abstimmung mit anderen wohlorganisierten Schritten – die richtige Strategie und Matrize für die richtige Taktik war, sein Ziel der Unabhängigkeit eines neuen Nationalstaats namens Indien von England zu erreichen. Daß dies so war, sieht man am Ergebnis. Programme sind teleologisch, Strategien statistisch, Taktiken lokal kausal.
Man erkennt Anarchisten also nicht daran, daß sie es verschmähen, Lenin zu zitieren – die RAF tat das gern, verwechselte aber anders als jener ihre Programmatik (die Kapitalisten und ihre Handlanger müssen weg) mit einer Strategie (wir bringen sie um) und hielt diese schließlich für eine Taktik (wir tun das, wenn sich dafür eine gute Gelegenheit anbietet). Daß man im »Konzept Stadtguerilla« und den Nachfolgeschriften mehr politische Globalanalyse als beispielsweise Einordnung der eigenen Organisation in ein Geflecht von der Art findet, wie dieses Kapitel es beschreibt, daß die Berufung auf Leninsche Konzepte der Avantgarde und Kaderführung samt bizarrer Andreas-Baader-Mystik wenig mit Was tun? -Lektüre und viel damit zu tun hat, daß der Name Lenin für Zerfallsprodukte der Studentenbewegung einfach ästhetisch als das Härteste, Unumstößlichste, Unbestechlichste galt, das Gegenteil also der real gerade stattfindenden Diffusion, liegt auf der Hand. Flexibilität und das Gespür fürs Erreichbare also gehörten nicht zu den Eigenschaften, welche die tragischen und die albernen Pop-Bolschewisten von 1970ff. an jenem bewunderten; und doch gehören die, liest man seine organisatorischen Schriften (daß er überhaupt welche von einiger Ausführlichkeit geschrieben hat, unterscheidet ihn von Marx und Engels und rechtfertigt, sonstige philologische und doxographische Bauchschmerzen bei diesem Wort ungeachtet, sogar das unschöne Wortmonster vom »Marxismus-Leninismus«), zu seinen unübersehbar größten Stärken.
Man lerne und staune etwa darüber, wie er den Versuchungen des Ökonomismus widersteht: Wie viele Marxkundige, von den frühen Sozialdemokraten über so integre Leute wie den oben erwähnten Viktor Agartz (»expansive Lohnpolitik«) bis hin zu Tronti und Asor Rosa, haben die Meinung vertreten, die marxistische Klassenanalyse der kapitalistischen Gesellschaft liefere qua Analyse bereits alles, was man an Programmatik, Strategie und Taktik wissen müsse, nämlich daß die Marxsche Lehre, da es ihr
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