Der Implex
gelungen sei, Staatliches und Politisches auf Gesellschaftliches und Ökonomisches zurückzuführen, damit geradezu vorschreibe, ökonomische Kämpfe als jederzeit und allerorten vorrangig vor sämtlichen anderen Emanzipationsbemühungen zu behandeln, die Politisierung der Klasse könne und solle nur über Lohnkämpfe erfolgen et cetera? Neben diese Ansichten halte man nun einmal Lenins Absätze aus Was tun? über gewisse russische Ultramarxisten der vorrevolutionären Zeit und seine Antwort an sie, sie sollten, anstatt nur Polizeiauftritte gegen Streikende für ernsthafte Probleme zu halten, lieber »alle möglichen Erscheinungen« der Unfreiheit und überhaupt des Unrechts beachten, zum Thema machen, angreifen,
»die Landeshauptleute und die Prügelstrafen für Bauern, die Bestechlichkeit der Beamten und die Behandlung des ›gemeinen Volkes‹ in den Städten durch die Polizei, der Kampf gegen die Hungernden und das Kesseltreiben gegen das Streben des Volkes nach Licht und Wissen, die Zwangseintreibung der Abgaben und die Verfolgung der Sektenanhänger, das Drillen der Soldaten und die Kasernenhofmethoden bei der Behandlung der Studenten und liberalen Intellektuellen – warum sollen alle diese und tausend andere ähnliche Erscheinungen der Unterdrückung, die nicht unmittelbar mit dem ›ökonomischen‹ Kampf verbunden sind, weniger weit anwendbare Mittel und Anlässe der politischen Agitation, der Einbeziehung der Massen in den politischen Kampf darstellen? Ganz im Gegenteil: Von all den Fällen, in denen der Arbeiter unter Rechtlosigkeit, Willkür und Gewalt zu leiden hat (weil sie ihn oder ihm nahestehende Personen betreffen), sind zweifellos die Fälle der polizeilichen Unterdrückung gerade im gewerkschaftlichen Kampf nur eine geringe Minderheit. Warum also von vornherein den Umfang der politischen Agitation einengen, indem man für ›weitest anwendbar‹ nur eines der Mittel erklärt, neben dem es für einen Sozialdemokraten andere geben muß?« 187
Die oben bereits angedeuteten Risiken der Partikularisierung, die eben nicht nur identitär-semiotische, sondern auch ökonomische Gefechte mit sich bringen, pariert Lenin mit dem Verweis auf Zugang zur Bildung, Varianten sozialer Mobilität, Zensursorgen, den man leicht ergänzen kann um Angelegentliches wie Überwachung, Rassismus, Sexismus, Homophobie, Krankenversorgung (und, um sie gruppiert, viele andere Felder, auf denen von der Arbeiterbewegung erkämpfte soziale Errungenschaften seit ihren schweren Niederlagen im späten zwanzigsten Jahrhundert auch in den liberalsten Regionen vom Staat unterm Druck der ökonomischen Gewalthaber zur Disposition gestellt werden). Der Vorteil solcher Themen ist, daß sie nicht lokal, das heißt im ökonomisch-gewerkschaftlichen Begriffssystem: betriebsübergreifend interessieren – die elende, nur sehr schwer aufzuhaltende oder gar zurückzuschlagende Verbetrieblichung von Tarifauseinandersetzungen, das Verschwinden von Flächentarifverträgen, das zersplitterte Wursteln an jedem Ort, welche die Kapitalseite in jüngster Zeit auf Gebieten erzwungen hat, wo die letzten funktionierenden Großgewerkschaften ihre Jagdgründe zu vermuten gewohnt waren, sprechen da eine bedrohliche Sprache. Lenins Vorschlag ist kein bloßer menschenfreundlicher Themenkatalog, sondern ein Versuch, Kollektivitäten sichtbar zu machen, die quer zu den Gruppenbildungen liegen, welche der Produktionsprozeß, die Bildungskasernierung, die Funktionalität des vorhandenen Gemeinwesens den Leuten auferlegen; aus scheinbaren Abstrakta will er durchaus Klassenbewußtsein holen, aber eben nicht einfach eines der Facharbeiter (oder der »Opel-Arbeiter« oder etwas noch Begrenzteres), sondern der Besitzlosen – das Feilschen um den Cent, das diesem Ansinnen entgegensteht, nennt er »Handwerklerei« und nennt es einigermaßen optimistisch »nicht eine Krankheit des Verfalls, sondern eine Wachstumskrankheit«, 188 was er sich erlauben kann, weil er sich in einer Situation befindet, in welcher die Nachfrage nach sozialistischer Strategie und Taktik sogar größer war als das organisierte Angebot. Man kann Lenin, wenn man geneigt ist, seine späteren Erfolge für einen Moment zu vergessen, an diesem Punkt für einen größenwahnsinnigen Feldherrn halten, der gleich alle Weltübel kurieren will, wird aber doch zur Kenntnis nehmen müssen, daß Marxismus für diesen Menschen offenbar nicht bedeutete, alle politischen Kämpfe als getarnte und verdünnte
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