Der Implex
ökonomische aufzufassen, sondern statt dessen den politischen, potentiell geschichtsbildenden Charakter der ökonomischen zu verstehen und explizit zu machen. Es ist, als wollte er sagen, daß nur Leute, die sich zutrauen, politische Kämpfe auch als solche zu führen, auch bereit sein werden, einen über Augenblicksnöte und -vorteile hinaus angelegten ökonomischen Kampf zu riskieren; und das ist einfach richtig. Marxismus bedeutet für Lenin nie: »Alles ist ökonomisch«, sondern im Gegenteil: »Nichts mehr soll nur ökonomisch sein« – die Wirtschaft, die Produktion, soll zur Domäne demokratisch artikulierten menschlichen Willens werden, statt zweite Natur zu bleiben; nur deshalb lohnt es sich vom sozialistischen Standpunkt überhaupt, sich mit ihr zu befassen, nur deshalb ist es nötig.
Der oben schon zitierte Jochen Müller, den man nicht unter den Verdacht stellen sollte, eifernder Leninist zu sein, erzählt die Geschichte der kurzen Liaison zwischen studentischer Bürgerrechtslinker und gewerkschaftlichen Bemühungen: »Am Anfang standen die Ostermärsche, an denen Jugendliche teilnahmen, eben auch gewerkschaftlich organisierte«, wobei der entscheidende Punkt war,
»daß diese Ostermärsche als Massenveranstaltungen auf die Jugendlichen, die ja zunächst in den Betrieben vereinzelt arbeiteten, und dort auf erhebliche, allerdings schon in den Lehrgängen (der Gewerkschaften, K/D ) für die betriebliche Arbeit einkalkulierte Schwierigkeiten stießen, stabilisierend wirkten. Hinzu kommt, daß, vermittelt über die Anti-Atom-Bewegung, und personalisiert durch die Studenten, die Bürgerrechtsbewegung in den USA, die in den Jahren 1963/64 ihrem Höhepunkt zusteuerte, vor allem über die kulturellen Ausformungen wie Folk- und Protestsongs erhebliche Wirkungen, besonders im emotionalen Bereich ausübte, und so ebenfalls zur Politisierung der Arbeiterjugendlichen beitrug«. 189
So unbeholfen steifhosig das gesagt ist (»emotionaler Bereich«), so anschaulich wird doch daran, was Lenin gemeint hat. Müller weiter:
»Überhaupt scheint die damalige Situation dadurch gekennzeichnet gewesen zu sein, daß die Jugendlichen ihre Solidaritäts- und Aktivitätserfahrungen zunächst in Bereichen außerhalb der Betriebe suchten, und dort ein Stabilisierungsprozeß ablief, der sie dann befähigte, in den Betrieben gewerkschaftliche Arbeit zu leisten. Verfolgt man den Werdegang einzelner ehemaliger Jugendlicher aus dieser Zeit, so stellt sich in groben Zügen etwa folgender Weg, den sie gegangen sind, heraus: Lehrgangsteilnahme, daneben Kommunikation und Kooperation mit Studenten im Rahmen der Ostermarsch- und Antinotstandsbewegung, weiterhin Kandidatur und Wahl zur Betriebsjugendvertretung, zu Verwaltungsstellenjugendausschüssen, Angestellten- und Frauenausschüssen, Nebenstellenvorständen im Rahmen der Regionalorganisation der IG Chemie. Von hier aus Organisierung betrieblicher Aktivitäten nach vorheriger Absicherung durch solidarische Koordination verschiedener Aktionen in verschiedenen Delegierten-Konferenzen mit dem Ziel, durch Beschlüsse Handlungsspielräume innerhalb der Gewerkschaft und in den Betrieben zu schaffen und zu erweitern.« 190
Wer lernt, sich zu artikulieren, kann das auch im Streit um die Krötenwanderung tun, wird aber merken, daß man kein Ziel allein erreicht, und erfahren, daß Solidarität weder einfach eine Tugend noch eine Sekundärtugend und auch kein nebulöser »Wert« ist, sondern eine sehr konkrete (und ziemlich anstrengende) Politikform.
VI.
Nach den Niederlagen
Viel, aber nicht überwiegend Lustiges, hat sich geändert in der Zeit zwischen dem Erscheinen der Erstausgabe von Was tun? und dem Moment, da wir die Schrift zitieren. Die Arbeiterbewegung (oder was allenfalls von ihr übrig ist) hat es heute eher mit »Krankheiten des Verfalls« als solchen des Wachstums zu tun – die Geschichte, die dahin führte, ist in ihren Grundzügen bekannt, die siegreichen Gegner der Arbeiterbewegung behindern ihre Verbreitung nicht; daß sich die Niederlage bis in die entlegensten Winkel herumspricht, scheint ihnen ein Herzensanliegen. Der politische Arm dieser Bewegung, dessen Taufname »Sozialdemokratie« war, hat spätestens seit Eduard Bernstein die Vorteile der Neuorganisation seiner Politik von der Taktik her (Parlamentsarbeit, Kompromisse, Gelegenheiten) bis in die Programmatik (wir wollen, daß der Sozialismus kommt, ohne daß wir ihn durchsetzen müssen, und beschließen deshalb,
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