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Der Implex

Der Implex

Titel: Der Implex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dietmar Barbara; Dath Kirchner
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Sein, ganz wie Hume lehrte, nicht zum Sollen gelangt, wohl aber von der Praxis, die außer dem Sein eben immer auch das Werden, die Identität der Differenz von Jetzt und Nichtjetzt, in sich einbegreift. Die häufig gerühmte »Strenge« der Sidgwickschen Gedankenführung ist so nichts anderes als ein philosophischer Niederschlag der bürgerlichen Umgangstugend »Verbindlichkeit«; man findet in diesen Texten keine Willkür des Assoziierens, wenig Bildhaftigkeit, fast keine Metaphorik, und beinah – paradox für einen Philosophen – nichts Begriffliches (es kommen Begriffe vor, aber das Geheimnis ihrer besonderen Handhabung durch Sidgwick ist, daß er sie wie Erfahrungswörter behandelt, darin als Beobachter der sozialen res extensa seltsam verwandt dem Beobachter mentaler Phänomene, Husserl). Daß alles, was Sidgwick auf diese Weise hat entdecken können, nicht nur »durch bestimmte oberste Grundsätze festgelegt« war, wie sein später Bewunderer John Rawls schreibt, sondern in diesen geradezu enthalten sein sollte, mutet heute ungewohnt platonisch an – so sehr hat man sich an ein situatives, sich an Güterabwägungen, Illustrationen und Streitfällen orientierendes Verständnis von Ethik gewöhnt; das Befremden mag jedoch abnehmen, wenn man sich dieses »Darinenthaltensein« nicht mehr im Sinne der Behauptung denkt, die Kasuistik sei bloße Untermenge der konstruktiven Relationen zwischen ethischen Sachverhalten, sondern das Größere, das im Kleineren wohnt.
     
    Es gehört zu den häufigsten und abgeschmacktesten Vorwürfen wider die Utilitaristen, daß jene »obersten Grundsätze« ihrem Wesen nach nichts anderes seien als »allgemeine Herrschaftsformen« (Foucault) von Disziplinargesellschaften. Nicht nur die strukturalistische und poststrukturalistische Polemik gegen Bentham, auch Adornos Wort »Das Ganze ist das Unwahre« oder die Kritik am geschriebenen Recht, die Schmitt, aber auch so antiautoritäre Menschen wie Walter Benjamin und ihm folgend Jacques Derrida formuliert haben, wenden sich gegen das von Sidgwick und anderen seiner Denkrichtung vertretene »Prinzip der Billigkeit«, wonach das, was für eine Person richtig sei, für alle Personen unter ähnlichen Umständen richtig sein müsse. Die modernen – und, wenn das Wort, das wir nicht nützlich finden, hier einmal stehen darf: postmodernen – Einwände gegen diese Idee sind in Wahrheit Wegmarken einer selbst nahezu universalen, zumindest in den vorläufig noch vergleichsweise reichen Gesellschaften für annähernd alle geltenden sozialen Atomisierung, die sich der Indienstnahme technischer, politischer und rechtlicher Fortschritte durchs »automatische Subjekt« der Kapitalverwertung verdankt, deren Tragweite die Utilitaristen verkennen mußten, weil sie sich zu ihrer Zeit nur erst in zaghaften Ansätzen bemerkbar machte. Kein am Ideal, geschweige der Tatsache der Vollbeschäftigung orientiertes Solidarethos »Alle für einen, einer für alle« kann gegen die Umstellungen im Akkumulationsregime angesichts von Automation und Computerisierung etwas ausrichten, keine Erwägung über den Nutzen der Familie für die Sozialkohäsion schafft das, was Foucault Biomacht genannt hat und in kontinentübergreifender Bevölkerungspolitik zu Zeiten von moderner Verhütungstechnik und Singletauschbörsen bei gleichzeitigem Fortbestand übelsten Aberglaubens, scheußlichsten Elends, weiblicher Beschneidung und Ausbreitung von HIV unter den Allerärmsten Plausibilität hat (die fahle Plausibilität der »Schuld der Physik« an den Atombombenabwürfen von Hiroshima und Nagasaki nämlich). In dem Maße, in dem das freie Tauschsubjekt aus den Erfahrungen der allermeisten mit dem Wirtschaftsleben verschwunden ist und die Einhaltung von Verträgen unter Monopolbedingungen wieder zur unmittelbaren Machtfrage wird (welche Firmen erhalten die Aufträge zum infrastrukturellen » Nation Building «, wo die Marines oder die Bundeswehr für Ordnung und Menschenrechte gesorgt haben?), haben kritische Intellektuelle von den Spätmarxistinnen bis zu den Poststrukturalisten sich von Verbindlichkeitspostulaten à la Sidgwick entfernt und den Anschauungen eines Carl Schmitt angenähert, der ins geschriebene Recht weniger Vertrauen setzte als in den, der es im Zweifelsfall garantieren und schützen kann.
    Dagegen erinnern wir noch einmal an Sidgwick:
    »The prominent element in Justice as ordinarily conceived is a kind of equality: that is, impartiality in the observance or

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