Der Implex
sozialem Zwang meist nach Maßgabe der Vermeidung von Schmerzen und Erlangung von Lust entscheiden. Damit ist die Sache freilich nicht erledigt, denn sofort kann man fragen: Das mag so sein, das tun sie wohl, aber sollen sie das auch? Auf den Gedanken, die Feststellung, sie täten es, beantworte auch diese Frage, konnte das bürgerliche Denken nur aufgrund der Naturrechtsidee verfallen (wenn er so entscheidet, sobald er nicht unterdrückt wird, und wenn er nicht unterdrückt werden darf, weil er Rechte hat, dann soll »der Mensch« so entscheiden).
Der Utilitarismus, den zu schmähen und zu fürchten zum radical chic in der Philosophie, der Sozialwissenschaft, unseretwegen gern auch dem Heideggerschen »Denken« im Westen (Synonym für: in den kapitalistisch bewirtschafteten Gegenden) seit spätestens 1950 gehört, sehen wir als einen notwendigen Denkfehler auf dem Weg zur Herstellung gerechter Gesellschaften an, der genau analog dem Naturrechtsdenkfehler gemacht werden und dann politisch wirksam werden mußte, um praktisch wie theoretisch korrigiert werden zu können. Seine durch und durch unverächtliche Herkunft von den französischen Materialisten (vorneweg Helvétius) über Bentham bis zum eingangs dieses Kapitels zitierten Sidgwick einmal jenseits der inzwischen gängigen Polemik nachzuzeichnen, wäre eine wertvolle Beschäftigung; wir greifen, weil uns dafür der Raum fehlt, zur Abwechslung einmal nicht, wie bei der Erörterung der Arbeitsteilung oder der Öffentlichkeit, die Ursprungsdebatten, sondern den vorläufigen Niveauhöhepunkt seiner Entfaltung heraus: Leben und Werk Henry Sidgwicks.
IV.
Love Song for Henry Sidgwick: Ein theoriegeschichtlicher Exkurs
Man kann der Meinung sein, der Tod erlöse die von Todesangst gequälten Menschen wenigstens von der Ungewißheit, indem er Einblick in die nun wirklich letzten Dinge verschafft. Das Gegenargument, so nüchtern wie simpel, lautet, daß wir das Problem des Todes ebensowenig durch einfaches Sterben lösen können wie das Problem des Lebens durchs Geborenwerden. Der Satz könnte von Arthur Schopenhauer stammen; sein wirklicher Verfasser jedoch war in fast allem, worauf es dem geistigen neunzehnten Jahrhundert ankam, dessen Antipode: Feminist und Optimist, Utilitarist und Philanthrop, ein großer Viktorianer und ein streng analytischer Moralphilosoph. Allenfalls auf die Validität der Wiedergeburtslehre hätten sich Schopenhauer und jener Henry Sidgwick zur Not einigen können, denn dieser hielt seine spiritistischen Neigungen bemerkenswerterweise für vereinbar mit einem unerschütterlichen Glauben an die Vernunft als dem höchsten, weil abstraktesten menschlichen Wahrnehmungsorgan. Die Zeit und der Kulturraum, die Sidgwick mit Charles Dickens und Friedrich Engels teilte, waren noch bereit, großzügigere Definitionen von Vernunft zuzulassen als die heute übliche, wonach Vernunft bloß das umfasse, was sich im Leben leider nicht vermeiden läßt, und dort aufhören darf, wo die Freizeit beginnt.
Die Viktorianer gingen mit ihren Gespenstern überhaupt pragmatisch um: Als der Romancier Bulwer-Lytton in geselliger Runde die Geschichte einer Französin zum besten gab, die angeblich für horrende Summen Tote wieder ins Leben rufen konnte, fragte Dickens, wie sie ihre Wucherpreise für eine letztlich doch immaterielle Arbeit rechtfertige. Bulwer-Lytton soll geantwortet haben, wenn die Toten zurückkehren, brauche man viel Parfüm.
Der Mensch, fand Nietzsche, strebe gar nicht nach Glück, das tue nur der Engländer – was daran wahr ist, steht nirgends deutlicher als bei Sidgwick; dieses englische Glück ist aber kein beschaulich Privates, sondern ein sehr öffentliches, ebenjenes, dessen Formel vom »größten Glück der größten Zahl« Sidgwick mit Bentham wie mit John Stuart Mill teilte, womit die Probleme aber nicht abgeschlossen sein sollten, sondern überhaupt erst der Debatte zugänglich gemacht.
Im noch recht jungen »Zeitalter des Kapitals« (Eric Hobsbawm), das diese Formel hervorgebracht hatte, war der neue allgemeine gesellschaftliche Reichtum Ursache einer zwischen den Polen von Geiz und Verschwendung angelegten, unwiederholbaren historischen Spannung; dank ihr brachte die Dialektik von Entsagung und Genuß eine bis dahin nicht gekannte Vielfalt von moralischen Wertungen, Spitzfindigkeiten und Umwertungen ererbter Verhaltensoptionen zur Sprache. Zwar wußte man, daß man die traditionalen Maßstäbe für »Seelenadel« wie allen Adel verloren
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