Der Implex
und erreicht nur ihre Verstärkung.
Nicht nur die Analyse und (vergleichende wie unterscheidende) Bewertung (»Kritik«) einzelner Dinge, Prozesse, Sachverhalte der Kunst, sondern auch die Makrogeschichte der Künste insgesamt lebt, da Kunst den Raum der Ursachen und Wirkungen mit dem der Gründe und Folgerungen auf kunstspezifische Art verbindet, die wir in diesem Kapitel entfalten wollen, vom Verweis des Vorhandenen aufs Vergangene oder Zukünftige, des Anwesenden aufs Abwesende – die begrifflich-historische Entscheidung, »ob etwas Kunst ist«, hängt so nicht davon ab, ob es als Kunst gedacht war, sondern ob sich entsprechende Spuren und Verweise daran plausibel aufweisen lassen – Gegenstände, Texte, Verhaltensweisen aus Epochen oder Kulturkreisen, die nichts kannten oder kennen, was Luhmann ein »Kunstsystem« nennen würde, können von unserer Epoche, unserem Kulturkreis dennoch so eingeordnet werden, ohne daß dabei irgendeine Unwahrheit geäußert würde: Als nahezu ideales Beispiel für etwas, das sich über Sprechakte verändern läßt und also in unserer nicht binären, sondern dialektischen Unterscheidung von Natur und Gesellschaft »gesellschaftliche Natur« hat, kann ein sakraler Gegenstand in einem Rezeptionskontext, der den religiösen Zweck nicht mehr setzt, dennoch als von diesem Zweck geprägt, auf ihn hin geschaffen gelesen werden, und die fortbestehende Zweckhaftigkeit als blanke, als unmarkierte erst die oben erläuterten Kunsteigenschaften (»Was Kunst ist, hat den Zweck, Zwecke an sich zu ziehen, und erreicht den unter anderem dadurch, daß es sich dagegen sperrt, auf einen festgelegt zu werden«). Bestimmte Dinge waren einmal keine Kunst, jetzt sind sie’s, später werden sie es vielleicht nicht mehr sein, und die retrospektive Konstruktion von Kunsttatsachen kennt sogar, wie in der Natur die Evolution, Übergangsformen zwischen Nichtkunst und Kunst – etwa synchron das Kunstgewerbe oder einige Artefakte der Kulturindustrie, diachron Schöpfungen aus Zeiten, in der die Kunst sich am Sakralen bereits zeigte, eine autonome soziale Kunstsphäre aber noch nicht bestand – die Pariser Kathedrale Notre-Dame ist damit so etwas wie der Archaeopteryx: kein richtiger Saurier mehr, noch kein richtiger Vogel, kein reines religiöses Kultgebäude mehr, noch kein reines architektonisches Kunstwerk. Duchamps Lektion, daß alles Kunst sein könne, die Beuyssche Lehre, daß alle Künstler sein können, die Warholsche Demonstration des Nichtantagonistischen, sondern von wechselseitiger Durchdringung, Hervorbringung und Reflexion von Genie und Kulturindustrie mögen historisch einem ähnlichen Übergangsstadium angehören; ob die Welt der Künste sich in sich selbst weiter ausdifferenzieren wird nach Kriterien, die der operativen Differenz zwischen Kunst und Nichtkunst auf irgendeine heute erst ahnbare Weise ähneln, läßt sich womöglich begrifflich leichter erkunden als künstlerisch. Daß allerdings nicht nur eine andere Begrifflichkeit, sondern auch eine andere Wahrnehmung die Rede über Kunst und die Reflexion darauf hinreichend verändern können, daß die heute gebräuchlichen Kategorien nicht mehr greifen, ist selbst ein durchaus nicht auf Spekulation angewiesener, sondern kunstfähiger Gedanke; die Science-fiction hat sich über Künste nach der Kunst, nichtmenschliche – also etwa außerirdische oder denkend maschinelle – Künste einiges einfallen lassen, von Fritz Leibers Roboterdichtung in The Silver Eggheads bis zu Mark Gestons Zeitmalerei in Mirror to the Sky , und daß die einmal voneinander geschiedenen Handlungsräume der Künste und des Spiels infolge der technisch-maschinellen Medienentwicklung neue Verbindungen eingehen, mag der Kulturindustrie eine Zukunft bescheren, die nicht mehr sehr verschieden ist von der Welt, die Hesse im Glasperlenspiel geschildert hat (ob man sich darauf freuen oder davor gruseln sollte, ist eine andere Frage, die aber wiederum sowohl begrifflich wie künstlerisch gestellt und beantwortet werden kann).
II.
Maßgaben, Mottenlicht, Metaphysik
Kunstschaffende selbst reden nicht seltener von Technik als die Restmenschheit. Ganz einig sind sich die beiden Gruppen allerdings nicht darin, was darunter zu verstehen sei; manchmal entsteht der Eindruck, die Kunstschaffenden wüßten ein bißchen zu gut, daß ihnen das Wort » techne « gehörte, bevor die Theodolitenbastler, Mobiltelefondesignerinnen und Brückenbauer Anspruch darauf erhoben, und der
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