Der Implex
beschritten: Lieber bringt sich die Kunst um, als sich anderen Zwecken zu unterwerfen als dem Zweck der Bedeutungserzeugung, dem Genuß der unerpreßten Gerichtetheit. Gerade dies aber, wie gesagt, zieht alle möglichen Zwecke an: Das an die eigene Ungebundenheit Gebundene lockt alle, die selbst ungebunden sein wollen, damit an, daß es suggeriert: Wer diese Freiheit beherrscht, ist selbst frei.
Aus solcher Offenheit für die verschiedensten Zwecke, welche erlaubt, die vieldiskutierte »Zweckfreiheit« des Künstlerischen als etwas zu sehen, das nicht weniger Zweck hat als anderes Menschengeschaffenes, sondern mehr Zweck anlockt, das also nicht Zweck reduziert, sondern vervielfacht, folgt aber die Schwierigkeit für Pragmatisten und Neopragmatisten von Dewey über Rorty bis Shusterman, eine pragmatische Ästhetik zu schreiben, die sie deshalb nur zuwege bringen, indem sie ihren Praxisbegriff an der Kunsterfahrung reduzieren und ihn von Kategorien wie Gebrauch und Benutzung möglichst weit wegrücken; das Dilemma ist strukturell dem des Positivismus und Neopositivismus verwandt, der Erkenntnis ohne Normatives beschreiben will und deshalb das Erkenntnisinteresse aus seinen Gleichungen kürzen muß, was die vielbeklagte Weltfremdheit, mangelnde Tatsachenhaltigkeit seiner Konstruktionen erzwingt und ihn wie auch die pragmatischen Ästhetiken in die Nachbarschaft von Verfallsformen der Aufklärung bringt, die mit Adornos und Horkheimers Verdinglichungskritik oder ihren Angriffen auf die instrumentelle Vernunft weniger leicht zu fassen sind als mit Alain Badious kluger Wendung gegen Stummelmaterialismen, die glauben, es gebe nur Dinge und die Rede darüber, nur Objekte und Objektsprachen, oder in unserer eigenen Begrifflichkeit: nur Natur und Gesellschaftliches, also Dinge, die sich nicht mitändern, wenn sich Sprache ändert, und andere, die das tun – was dabei dann fehlt, sind sämtliche Schnittstellen zwischen beiden, ist die Tatsache, daß im menschlichen Kosmos diese beiden immer miteinander vermittelt sind durch jene wahrnehmbaren Spuren des Nichtmehrseienden und Voraussetzungen des Nochnichtseienden, die wir Implex nennen. Aus diesem Kosmos, also der Gesamtheit aller Sachverhalte, die geworden sind und vergehen werden und an denen wir beides, weil wir uns erinnern und vorausplanen können, abzulesen imstande ist, können wir uns niemals hinauspraktizieren – wenn auch hinausprobepraktizieren, hinausdenken, sonst gäbe es weder Wissenschaft, noch Kunst, noch Politik, noch Philosophie. Daß die Künste die Zwecke anziehen, indem sie sich für sie offenhalten, macht sie, wie wir gesehen haben, zum Austragungsort auch wissenschaftlicher, politischer, philosophischer Verweis- und Implexbeziehungen; auf der Rezeptionsseite erscheint dies dann als Teilhabe der künstlerischen Werke oder Prozesse an diesen Beziehungen, oder wie die Psychoanalyse sagen würde: als Überdeterminiertheit; auf der Produktionsseite produziert es Souveränitätseffekte, den notwendigen (und produktiven) Schein der Verfügung über kunstfremde Verweis- und Implexbeziehungen seitens der Künstlerinnen und Künstler, was wiederum auf Rezeptionsseite den Geniebegriff plausibilisiert und etwa bei den erzählenden Künsten vom Epos bis zur Fernsehserie überall die Lesart einer Künstlerinnen- oder Künstlerfabel erlaubt (also die Umkehrung der Verfahrensweise Joseph Campbells in The Hero With a Thousand Faces , der das Heroische als das in allen Genieleben von der Vorzeit bis heute fortlebende Mythische sieht – auch Stephen Dedalus wäre ihm Ikarus, während wir den Akzent in dieser wechselseitigen Implikatur des Mythischen und des Künstlerischen lieber andersherum setzen und in Ikarus bereits die Selbstverewigung leider anonymer Kunstschaffender erkennen. Man lese einmal so verschiedene Texte wie den Hamlet , die Tarzan -Romane oder die Stücke Becketts als Künstlerparabeln: Es geht immer auf, aber das sagt nichts über die »tiefere Bedeutung« der Werke oder darüber, »was uns die Dichter damit sagen wollen«, sondern über die Natur der Künste, denen nun mal alle drei Exempel angehören).
Wenn die französische Kunstkritikerin in der oben erzählten Anekdote von den Präraffaeliten den moderneren Kunsttatsachen einen nicht nur technischen, sondern technizistischen (das Technische an sich selbst ausstellenden, thematisierenden, zelebrierenden) Charakter bescheinigt als den älteren, so spricht sie von etwas, das wir in der
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