Der Implex
sein, kann ich das ohne Einbuße an identitätskonstitutiven Erinnerungen nicht; das Bild »Guernica« ist ein Bild, keine bombardierte spanische Stadt. Aber auch das Blau eines Bildes von Klein ist nicht das Blau einer Physis , denn bei letzterem kann ich, wenn ich keine konsequente deterministische Theistin (und sogar Fatalistin) bin, nicht fragen: Was ist damit gewollt, gemeint? – bei Klein schon. »Was will uns der Dichter damit sagen?«, läßt sich nur fragen, wo alle davon ausgehen können, daß tatsächlich etwas gesagt, nicht nur etwas gemacht (oder gar: nur etwas passiert) ist. Aliquid stat pro aliquo : Allen saussureanischen Trunkenheiten des letzten Jahrhunderts zum Trotz muß etwas natürlich zunächst einmal etwas sein, bevor es für ein anderes stehen kann, dann aber geht es sofort Implexbeziehungen ein und errichtet selbst welche, die Vermessungsversuche wie den alten Augenmaß-Satz ars longa, vita brevis ins Leben rufen – der allerdings verkehrt ist; die Kunst ist immer kürzer als das Leben, umfaßt es aber, wie das bei Dingen, die innen größer sind als außen, dennoch oft genug mit mehr als hinreichender Vollständigkeit. »Das Leben«: Nun ja, das einzelne der Einzelnen ist wirklich kürzer, aber die Welt in der Zeit geht endlos offen weiter, während die Welt des Romans mit der Lektüre und der Erinnerung daran lebt und stirbt. Prinzipiell ist damit, was immer Umberto Eco dagegen haben mag, auch das längste und breiteste Kunstwerk abgeschlossen, endlich, die Wirklichkeit aber nie (mit den Implexrelationen, die entstehen, wenn die beiden einander juxtaponiert werden, und zwar innerhalb der Künste selber, hat die Moderne ausdauernder gespielt als jede Kunstepoche vor ihr, nicht nur im epischen Gedicht von Leuten wie Zukofsky und Pound), das, als Lebenswerk angelegt, große Geschichtsprozesse in die (Werk-)Schicksale der Verfasser einmanteln sollte. Die Illusion der Offenheit ist freilich erwünscht, sie kommt zustande, wo die Offenheit für Zwecke, von der wir oben gesprochen haben, durch eine möglichst (also niemals: beliebig) große Anzahl von Anschlüssen und möglichen Verweisperspektiven suggeriert wird. Der Wahlspruch derjenigen Literatur, die dies weiß, ist immer Pounds Definition der eigenen und der bewunderten Arbeit als »language charged with meaning to the utmost possible degree«. Das in diesem Kraftfeld leuchtendste Beispiel für die Beziehung zwischen der Uneigentlichkeit der Kunsterfahrung einerseits und der nicht eskamotierbaren Tatsache, daß es sich gleichwohl um Erfahrungen handelt, andererseits ist bekanntlich die Ironie, und zwar beileibe nicht nur die romantische. Im kunstgemäßen Gelingensfall ist ironischer Zeichengebrauch von etwas beseelt, das man auf die Formel »Nicht wörtlich, aber dennoch, ja gerade deshalb todernst gemeint« bringen könnte: Karl Kraus fiel zu Hitler eben doch etwas ein, aber mit dem Satz, der behauptet, es sei nicht so, sagt er etwas, das für alle weiteren Einfälle der unhintergehbare Daseinsgrund ist: daß mit »Hitler« ein Ereignis vorliegt, gegen das »Einfälle« jedenfalls das falsche Antidot sind. Die berühmten »performativen Widerspüche« sind universelle Glieder der Binnenskelette aller Künste, weil ihr Grunderfahrungsmodus, als Erfahrung von etwas, das gar nicht ist, selbst schon einen solchen performativen Widerspruch darstellt (also nicht nur: einer ist, sondern, ganz wörtlich: einen darstellt).
3. Kunst ist neben anderem, was sie, wie wir gesehen haben, ist und tut, auch eine Erkenntnisweise, freilich vermittelt durch ein »als ob«, das Gesamte ihrer uneigentlichen Erfahrungsformen: eine Erkenntnis der Welt, die ist, aber nicht der Welt, wie sie ist, wenn auch unter Verwendung von Dingen und Sachverhalten, die sind – Bedeutung generiert man nur aus etwas, das ist, sie ist selbst ein rein innerweltlicher Vorgang. Picabias Losung, daß der Kopf rund sei, damit das Denken die Richtung ändern könne, und die alberne Perspektivistik der Gestaltlehre – mal sieht man eine Vase, mal zwei Menschenköpfe im Profil – verdunkeln beide diesen sehr wichtigen Tatbestand: Man kann mehreres und Verschiedenes sehen, aber es macht einen Unterschied, ob man etwas sieht, das da ist, oder etwas, das man dazudenken muß – zwei Profile, eine Vase, aber wer vor diesem Bild oder einer Kippfigur ausruft: »Das ist doch das rote rotierende Nichts namens Wilfinger Mittwoch!«, hat jedenfalls eine Eigenleistung erbracht. Die Kunst
Weitere Kostenlose Bücher