Der Implex
die Erfindung der Perspektivmalerei, des Romans, der Oper, der Photographie et cetera, Dinge in den Blick zu nehmen, die vorher unterm Radar der Kunst hindurchflogen oder über ihren Verstand gingen. Die Maler der Renaissance dachten, es ginge um Anatomie und Räumlichkeiten, die der Moderne, es ginge um Farben und Formen. Musiker warfen sich zunächst auf Stimmungen, in Dur oder Moll kodiert, später dann auf die zwölf Töne, das Angebot der Polyrhythmik, endlich die Maschinen der Klangerzeugung selbst. Marcel Duchamp fand, man könne eigentlich alles herausbrechen, was man in der Welt findet; und wer dachte, danach geht’s nicht weiter, mußte mit der Entwicklung der konzeptuellen Künste erleben, daß man auch die verschiedenen Akte des Herausbrechens selbst wiederum zu Elementen der (Kunst-)Welt erklären, aus ihr isolieren und zu neuen Kunstwelten gruppieren kann. Was also ist »Material«? Das kommt immer auf die Künste selber an.
Stan Brakhage schien eingangs zu denken, sein Material seien Naturschönheiten wie Geburt, Küsse, Koitus, Tod und Verwesung. Dann meinte er, Maya Deren, die Mutter der filmischen Avantgarde, die er sehr bewundert hat, sei auf der richtigen Spur gewesen, als sie mit Schneidetechniken dem Thema Zeit auf den Leib rückte (»At Land«, 1944, »Meshes of the Afternoon«, 1943-59) und mit Kamerahaltungen die Bewegung des menschlichen Körpers in tänzerischem wie kriegerischem Ausdruck einfing (»A Study in Choreography for Camera«, 1945, »Ritual in Transfigured Time«, 1945-1946). Brakhage, Genie des Wesentlichen, zog von dieser bei Deren gezeigten Bewegung folgerichtig noch den eigentlich beliebigen, konkreten bewegten Körper selbst ab und zeigte bald darauf nur noch, was Bewegung, Entwicklung, Veränderung selbst sind, in synästhetischem Flimmern.
Neben der Bewegung, der Entwicklung, der Farbe, der Stille und all den anderen ineinanderwirkenden, auseinander hervorgehenden Eigenschaften der Filmkunst, die er wie wenige andere verstanden und verwirklicht hat, gehört heute, auf dem Stand von DVD und YouTube, auch die nie vorher größere Reichweite und damit Erreichbarkeit der bewegten Bilder, ihr Verfügbarsein für Kopie und Bearbeitung, zum zeitgemäßen Begriff von »Material«, das bearbeitet werden kann.
Material, diese Behauptung sollte der Exkurs in Brakhages Werk bebildern, ist das, woran techne vollzogen werden kann; oder als Implexbeziehung: Künstlerisches Material ist alles, was techne (jemals in der Geschichte der Künste) so behandelt (hat), daß seine Eignung, bedeutungstragender Weltausschnitt zu sein und eine unwirkliche Welt zu bedeuten, sinnliche Wirklichkeit wird.
IV.
Wie man Bedeutung behauptet
Großer systematischer Ehrgeiz könnte dazu inspirieren, die Kunsttechniken zu katalogisieren, wie Freud die Traumtechniken (Verschiebung, Verdichtung, Verleugnung et cetera) katalogisiert hat: sammeln und verstreuen, ausschneiden und einfügen, Anschlüsse herstellen und durch Rahmung wieder abknapsen, Zeit und Raum verändern durch gezielte Veränderung von Sinnesmarkierungen und Zeit und Raum. Das Inventar, der Maschinenpark, fortsetzbar sicher um vieles und Schönstes, könnte stützen, aber nicht allein ausmachen, was wir von den Künsten sagen wollen. Soweit man das Ästhetik nennen kann, soweit es Produktions- und Wirkungsästhetik als miteinander vermittelte Kategoriennetze zur Erscheinung bringen, ihre Implikaturen explizieren will, kommt es dabei nicht auf diese Instrumente, sondern auf dreierlei Abstrakta an:
1. Kunst arbeitet, womit immer sonst, jedenfalls mit Reizen, und Reize bedingen menschliche Aktivität (und sei’s nur niedrigenergetische: »etwas empfinden«, »nachdenken«). Wir nehmen das, so allgemein es klingt, durchaus politisch, als Voraussetzung für nicht allein ästhetische, sondern überhaupt menschliche Geschichte, damit auch für Fortschritt: Das Aktivitätsniveau heraufzusetzen ist, wohin es auch führen mag, zunächst einmal im Interesse aller, welche die Welt für veränderungswürdig halten (Wallace Stevens, kein Kommunist, spendierte dem Kommunismus einmal das mehrdeutige Lob, er sei jedenfalls ein Unternehmen zur Förderung der menschlichen Aufmerksamkeit). Reize zu setzen, sie irgendwo zu situieren, ist dabei nach unserem Verständnis der Künste in diesen nicht so sehr Eröffnungszug einer bestimmten Kommunikationsleistung als vielmehr eine zunächst einmal sich selbst genügende und genießende Ausnutzung der permanenten
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