Der Implex
Schönheit überfallen und entrückt hat. Noch ein Schauder: Diesmal weiß auf schwarz, »Nightmusic« heißt das nächste Werk. Wie Einfälle platzen Rauchgelbwolken in Rubinhohlspiegel. Kobaltflocken fressen Tintentierchen und spucken lila Windbüschel aus. Wieder eine Überraschung – diesmal ist die Schrift nicht handgeschrieben, sondern in nüchterner Typographie gehalten, »Lovesong«. Der Schock des Erwachens, der den Helden Neo im ersten »Matrix«-Film durchfährt, zwickt uns in alle Sinne; das Sichtbare weicht uns aus, eine Art Bienenstockwabenwölbung, ein künstliches Zelleninneres. Schließlich reißt der Kokon auf, und Heidelbeerhände werfen mit Aquarellfetzen. Dunkle Tropfen aus Ölglanz kreuzen horizontale Regenatmosphären. Was ist das?
Das sind drei Kurzfilme, die der 1933 geborene, 2003 gestorbene amerikanische Künstler Stan Brakhage geschaffen hat.
Die Stücke, deren Wirkung wir zu beschreiben versucht haben, sind allesamt ohne Kamera hergestellt, unter direkter Einwirkung von Manipulationstechniken auf das Filmmaterial: »Mothlight« als Collage von biotischem Krimskrams (zum Beispiel Grashalmen und Mottenflügeln), »Nightmusic« und »Lovesong« als Malerei im Bildrechteck. Die Filme führen uns in Wälder, Gebüsch, vegetabile Existenzweisen. Anders als das sonst bei der Naturfilmerei gern in den Mittelpunkt gestellte Tierleben ist diese Wachstumswelt stumm. Mit Ton hat Brakhage selten gearbeitet; er fand, das lenke nur ab.
Wie in den beschriebenen Wundern blaues Laub von rotem Dorn durchstochen wird, wie hier Ranken sich ringeln, Keime aufgehen, Verzweigungen entlang Sproßachsen wuchern, gestaltlose Botanik zittert, das alles erinnert Zuschauer heute vielleicht an den irrwilden, phytochromen und phototropen Blütenübermut von James Camerons Avatar . Auf den nicht unwichtigen Unterschied aber muß hingewiesen werden, daß Cameron uns eine Welt, die es nie gegeben hat, mit Menschenaugen zeigen will, die diese ausgedachte Welt so naturalistisch wie möglich wahrnehmen (am besten gleich dreidimensional), während Brakhage uns umgekehrt eine durchaus gewöhnliche Welt aus Wasser, Grashalmen und Staub im Morgenfenster, die es bekanntlich wirklich gibt und die wir alle kennen, vor ein paar Augen führt, wie man sie noch nie besessen hat. Camerons Welt ist unwirklich, sein Blick naturalistisch; Brakhages Welt hingegen ist die gegebene, sein Blick jedoch antinaturalistisch.
Seit es Filme überhaupt gibt, wird darin mit Tricks gearbeitet, auf die man hereinfallen wollen muß, um genießen zu können, wie hier wirkliche und erfundene Welten und Blicke die Überführung des Naturschönen ins Kunstschöne erlauben und umgekehrt. Als Georges Méliès kurz nach der vorletzten Jahrhundertwende »Le voyage dans la lune« und »Le voyage à travers l’impossible« drehte und damit ein visuelles Traumidiom zeugte, das, von Frankreich ausgehend, in Deutschland (»Metropolis«, 1926), Rußland (»Aelita«, 1924) und bald darauf bis heute in Amerika die weitestreichenden Folgen hatte, wurde eine Weise, das Nichtvorhandene unmittelbar als Vorhandenes hinzustellen, kulturfähig, die man zu Unrecht unter die »Illusionen« rechnet. Es geht dabei nämlich nicht darum, daß Leute etwa glauben, sie führen wirklich zum Mond oder befänden sich mitten unter schlaksigen para-indianischen Katzenschlümpfen auf dem Planeten Pandora (darum geht es nur, soweit der Film, außer Kunst, immer auch Rummelplatzattraktion war, ist und sein wird). Sinn und Zweck der Veranstaltung ist vielmehr, wie bei jeder Kunst, das Unternehmen, Haltungen (mit einer Filmmetapher: Einstellungen) zur wirklichen Welt mitzuteilen, indem man bestimmte, mit Absicht aus dieser wirklichen Welt herausgebrochene Elemente so gruppiert, daß dabei der Anschein einer Zweitschöpfung, einer Parallelwelt herauskommt, der man ansieht, daß sie von einer Intelligenz geschaffen wurde, die ebenjene Haltungen einnimmt. Das technisch Interessante ist hierbei stets die Frage: Was kann das überhaupt sein, »Elemente der wirklichen Welt«? Woraus besteht die denn?
Die Antwort darauf hat sich in der mehrtausendjährigen Geschichte der Künste vielfältig verändert. Was für Pixel man nimmt, welche Auflösung, welche Pixeldichte möglich scheint, das alles ist ständigen Schwankungen, sozialen und ästhetischen Gezeitenkräften unterworfen.
Wie das Fernrohr weit Entferntes und das Mikroskop winzig Kleines erstmals sichtbar machte, so erlaubte es
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