Der Implex
Laßt uns ab jetzt gar nicht erst von Geschichte sprechen, wo es nur um Religions- oder Gebietsstreitigkeiten geht.
Angenommen, der Satz wäre als Tatsachenfeststellung falsch.
Dann müßten, ihn zu falsifizieren, immerhin bedeutsame Dinge passiert sein, die zwar viele Menschen mit nachhaltigen Folgen bewegt haben, aber nicht auf den Klassenbegriff zu bringen sind. Dabei hätten Menschen dann ihr Handeln an etwas ausrichten müssen, das nicht künstlicher, produzierter, kurz: wirtschaftlicher Art war, sondern etwa biologischer, religiöser oder nationaler. Kämpfe, in denen die Leute als Christen oder Muslime, Angehörige dieses oder jenes Clans, Bewohner dieses oder jenes Erdteils teilnehmen, sind ungeschichtlich, sagen Marx und Engels, weil sich dabei die Menschen wie Tiere aufführen, die um Futterplätze wetteifern oder sich gegenseitig austilgen.
Erst wo Menschen mehr herstellen, als sie verzehren können, erst wo sie Reichtum bilden, erst wo sie sich die Natur per Arbeit aneignen und sich damit auch Mußezeit verschaffen, können sie Geschichte machen – nämlich ihre Verhältnisse untereinander dem Streit, der Abstimmung, der möglichen Einigung unterwerfen.
Marx und Engels schlagen, so gelesen, vor: Die politischen Parteien, zwischen denen Kämpfe stattfinden, die über den Verlauf von Geschichte entscheiden, messen wir an ihrem Verhältnis zur Herstellung und Nutzung von Muße und Überfluß, an ihrer Art, das Mehrprodukt zu erzeugen und zu verteilen.
Dieses Verhältnis war in keinem je erprobten System für alle gleich. Immer gab es große Gruppen, die sich danach unterschieden, wie sie zur Erzeugung und zur Verteilung des Mehrproduktes standen. Das waren und sind die Klassen. Wo ein Mensch sagt: »Weil ich bei der Bildung von mehr Reichtum, als meine Gesellschaft zur Selbsterhaltung braucht, diese oder jene Rolle spiele – als Sklavin, Sklavenbesitzer, Lohnarbeiterin, Verwaltungsangestellter, Agrarministerin oder Physikerin – habe ich diese oder jene Forderung«, wird Wichtigeres und Intelligenteres gesagt, als jeder Satz sagen kann, der mit den Worten: »Ich als Mutter, als Rothaariger, als Normannin, als Hindu …« anfängt.
Wer Gerechtigkeit nicht als Deutscher oder als Linkshänderin fordert, sondern als Gattungswesen, das allseitigen Reichtum schaffen kann, aber aufgrund der Einrichtung der Gesellschaft davon ausgeschlossen ist, diese Fähigkeit im vollen Umfang zu verwirklichen und zu genießen, begibt sich in den Klassenkampf.
VII.
Einige Widerreden (und Antworten darauf)
Geschichte, fand Marx, müsse so lange als Geschichte der Klassenkämpfe angesehen werden, bis die dafür aus historischen (also nicht einfach logischen) Gründen geeignete Klasse sich die Aufgabe stellt und sie löst, einen Zustand herzustellen, der die Klassengesellschaft aufhebt. Die Denkbewegung ist eine des Forderns, aber keine voluntaristische, denn sie trägt induktiv gewonnene Lemmata in sich wie der Rosinenkuchen kleine getrocknete Trauben. Wer sich ihr verweigert, tut das entweder mit normativer (das Klassenkampfkonzept wird als Haßpredigt aufgefaßt, dem man den moralischen Boden im Namen von sozialpartnerschaftlichen, organischen, christlichen, völkischen etc. etc. Vorgaben zu entziehen trachtet) oder faktischer (»es gibt gar keine Klassen« oder »die Klassenunterscheidung trägt nicht weit genug, um solche weitreichenden geschichtsphilosophischen und politischen Inferenzen daran aufzuhängen, wie das der Marxismus getan hat«, »Klassen sind von anderen Ausgrenzungsdispositiven überlagert, die man dem Klassenkampfkonzept nicht subsumieren darf« etc. etc.) Widerrede.
Beiden kann man begegnen, wenn man die Vermittlung zwischen Sein und Sollen, die zwischen dem beschreibenden und dem normativen Teil dessen, was wir bei Barbauld und Marx als die Anwendung des Aufklärungsdenkens aufs Klassenproblem identifiziert haben, berücksichtigt. Weder Barbauld noch Marx verletzen Humes Gesetz, wonach es zwischen dem Sein und dem Sollen keine Kausalverbindung geben kann und deshalb das Sollen aus dem Sein nicht gefolgert werden dürfe. Sie folgern aus dem, was ist, nicht das, was sein soll, sondern das, was sein kann, und dieser Implex des Gegebenen wird dann als mehrdimensionale Möglichkeitsgeographie, als soziopolitischer Entscheidungsraum neu beschrieben, indem Optionen fürs Handeln aus den Bedürfnissen folgen, die Humes Gesetz, Schöpfung eines wahren Protopositivisten, aus der ganzen Beziehung
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