Der Implex
zwischen Sein und Sollen eskamotiert wie nur der Wiener Kreis das Erkenntnisinteresse aus der Erkenntnis – die Denksünde des neueren Sozialkonstruktivismus und der sogenannten science studies , alle Inhalte und Gestalten der Erkenntnis ausschließlich aus diesem Erkenntnisinteresse selbst deduzieren zu wollen, weil sie in ihm und seinen sozialen Parametern vorentschieden sei, ist von diesem metaphysischen Erlaß Humes nur die quasikantianische Umkehrung, die wie so viele Umkehrungen metaphysischer Sätze die Metaphysik nicht hinter sich läßt, sondern gerade so metaphysisch bleibt wie das von ihr Verworfene. Barbauld und Marx sagen: Wer die Klassengesellschaften studiert, sieht in ihnen die Momente ihrer möglichen Beseitigung. Sie behaupten nicht, aus diesem Studium folge die Verpflichtung, sie zu beseitigen. Man kann auf einem Vexierbild Verschiedenes sehen, und was man sieht, hängt davon ab, wer man ist und was man sucht, da haben die Erfinderinnen und Erfinder des Sozialkonstruktivismus recht. Aber was nicht da ist, wird nicht gesehen werden. Was da ist: Das nennen wir oben Möglichkeitsgeographie, Entscheidungsraum, das nennt dieses Buch den Implex.
Hält man ihn in der Klassenfrage gegenwärtig, so wird man die beiden Anstöße der zwei oben angeführten Widerreden auf zwei verschiedenen Wegen auffangen: Dem normativen begegnet man dann, indem man nach dem Vorbild Barbaulds den Gegenstandsbereich der Lehre vom guten Leben als ohne Reue und Zweideutigkeiten selbst offen normativ orientierter Gesellschaftstheorie begrifflich für die Aufklärung und deren mögliche Verlängerungen zurückerobert – einen Gegenstandsbereich, den die in den etablierten Sozialwissenschaften systematisch betriebene Ausklammerung der Interessengegensätze bei Theorien, die von einer nichtantagonistischen Zusammensetzung der vorhandenen Gesellschaft ausgehen, trockenzulegen hoffte. Dem faktischen Einwand wiederum wird man, wenn man ihm nicht erliegen, ihn aber ernst nehmen möchte, am beweglichsten begegnen, indem man Jairus Banaji darin folgt, daß die verschiedenen Unrechts-, Ungleichheits- und sonstigen sozialen Leidensquellen der gegenwärtigen Gesellschaften um die zerfallenden Zentralmoleküle der Lohnarbeit gruppiert sind, nicht als deren skalierbare Überbauten, sondern als Komplemente, Derivate, komplementäre Existenzvoraussetzungen, früher oder später erfolglose Verneinungen und so fort, operativ wirksam gemacht in nicht länger nationalstaatlich verfaßter, sondern transnationaler Anordnung, entsprechend immerneuen wie immergleichen hegemonialen Integrations- wie Ausschließungsstrategien und Taktiken der gegebenen Akkumulationsregime, wie sie etwa Kees van der Pijl 1998 in Transnational Classes and International Relations beschrieben hat.
Über diese beiden klassisch antimarxistischen Widerreden hinaus hat sich in den zwei Jahrzehnten seit Zusammenbruch und Niederlage des von der Oktoberrevolution ermöglichten Sozialismusmodells ein weiterer, historisch (wenn schon nicht logisch) neuer bemerkbar gemacht, der weniger anti- als vielmehr enttäuscht postmarxistisch auftritt. Allerlei (ehemals?) marxistische Gelehrte und (vordem?) an der Arbeiterbewegung orientierte politische Praktikerinnen, Uniprofessoren, ehemalige Terroristinnen oder Insassen von K-Gruppen, geläuterte oder grimmig fortwesende staatsfeindliche Elemente aller Farben und Formen also, die weder die Existenz einer vom Besitz an den Produktionsmitteln ausgeschlossenen Klasse leugnen noch deren moralisch-ethische Berechtigung, die Klassengesellschaft abschaffen zu wollen, grundsätzlich in Abrede stellen, halten die »historische Mission« ebendieser Klasse (die sie nur dann noch Proletariat nennen, wenn sie damit eine ironische Markierung als Verweis auf die Überholtheit des Sprachgebrauchs setzen wollen) indes für erledigt. Ein Weltzustand, so sagen sie, sei eingetreten, in dem sich das Startfenster der Überwindung von Klassenantagonismen geschlossen hat, vielleicht für Jahrhunderte.
In merkwürdig undialektischer Umkehrung ihrer vormals liebsten Glaubenssätze, wonach sich die Arbeiterbewegung bei der Erledigung ihrer Erlösungsmission auf transhistorische Gesetzmäßigkeiten verlassen konnte, wird nun das Sterben der in jenem Glauben alles durchdringenden Hoffnung mit solchen Gesetzmäßigkeiten begründet (man folgert gleichsam aus dem Sein kein Sollen mehr, sondern ein Nichtwollen; Schopenhauers Wunschverneinungsbuddhismus
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